Amanda Harris
Meine Haare waren, wie für die Hofdamen von Königin Astrid üblich, zu einem engen Knoten geflochten und darüber trug ich, wie fast jeder auf dem Marktplatz, einen schwarzen Trauerumhang. Als ich vor einigen Tagen hier gewesen war, hatte ich noch gedacht, sterben zu müssen, aber das Universum hatte sich meiner erbarmt. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, hätte man mir anstelle von Arie einen Dolch in die Kehle gerammt. Hunderte von Leute hatten sich heute auf dem Ostplatz versammelt um gemeinsam der Toten zu gedenken. Ich hatte von Lora gehört, dass man veranlasst hätte, anzugeben, es wäre ein Trupp tuliper Soldaten gewesen, die hier getobt hatten. Angeblich, um weniger Aufsehen zu erregen, aber das glaubte ich nicht. Nachdem, was Prinzessin Jillian mir erzählt hatte, musste die Königin trotz der Gräueltaten ihres Mannes viel für ihn empfinden, daher würde sein Verschwinden auch vor dem gemeinen Volk verheimlicht. Mory hatte es trotzdem gewusst.
Thomas hätte sich nun furchtbar darüber aufgeregt, dass man die Wahrheit vor dem Proletariat verheimlichte, aber er war ja nicht hier. Ich musste lächeln und zog die Kapuze etwas weiter ins Gesicht.
Ich vermisste zu Hause schrecklich. Die Leute dort und auch mein ganz normales Leben. Meine Arbeit. Das hier war ganz anders, aber ich hatte Prinzessin Jillian meine Treue geschworen. Ich würde sie nicht im Stich lassen.
Die Königin war nach ihrer kurzen aber hoffnungsvollen Ansprache mit den Hofdamen zurück ins Schloss gefahren, aber ich hatte mich davon gestohlen, um nach Mory zu suchen. Auf dem Platz hatte ich ihn unter den vielen Menschen nicht ausmachen können, und ich wollte sichergehen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging.
Er war nirgends zu sehen, also ging ich an der Hafenkante entlang, bis zu einer kleinen Gasse, die zu dem Haus von ihm und seiner Mutter führte, aber in der Ferne sah ich eine Person auf dem Weg sitzen. Ich ging auf diese zu, bis ich Mory erkannte. Er saß abgelegen der Menschen und der vielen Häuser auf einem Felsen und schleuderte kleine Kieselsteine ins Meer. Er sah furchtbar traurig aus, was meine Schuldgefühle nicht gerade erträglicher machte. Mory schien die selben zu haben. Unter dem schwarzen Hemd, dass ich ihm besorgt hatte, war ein Teil des Verbandes zu sehen, welchen er nun wieder tragen musste.
Unbeholfen kletterte ich nach oben und ließ mich neben dem Jungen nieder.
„Wie geht es dir?" fragte ich und sah ihn an. Er warf noch immer einen Stein nach dem anderen. Ohne mich anzusehen grummelte er: „Wie solls mir gehen, mein Bruder ist tot."
Es brach mir das Herz und ich beschloss, das Thema auf etwas anderes zu lenken.
„Wo ist eure Mutter, ich habe sie nicht gesehen?"
Jetzt unterbrach Mory seine Tätigkeit und schaute mir ins Gesicht. Seine Augen waren geweitet vor Zorn.
„Raffst du denn nichts?! Ich habe keine. Wir hatten keine! Sie ist vor über vier Jahren vom König getötet worden, weil sie angeblich einen Aufstand angezettelt hat."
Er hielt angestrengt die Tränen zurück und wandte sich ab. Es flogen wieder Kieselsteine. Natürlich war ich ihr deshalb nie begegnet. Ich kannte keine Worte, um auszudrücken, wie schrecklich Leid mir all das tat und wie unendlich schwer all das für einen Jungen seines Alters sein musste. Wie alt war Mory denn, fünfzehn vielleicht?
Arie war erst fünf gewesen, also musste Mory sich quasi seit seiner Geburt allein um ihn gekümmert haben.
Mit zehn Jahren bereits Waise und mit der Verantwortung für zwei Menschen. Gäbe es doch nur etwas, das ich tun könnte, um ihm wenigstens einen Tag als ganz normalen Jungen ermöglichen zu können. Aber das gab es wohl nicht.
Ich stand auf und griff, ohne Achtung seiner Reaktion, Morys Arm und zog ihn auf die Füße. Während wir den schmalen weg zum Friedhof entlang gingen, ließ ich seine Hand nicht los. Auch wenn es ihm augenscheinlich missfiel.
„Es gibt Neuigkeiten von der Prinzessin. Sie hat geschrieben, sie, der Prinz und die Piraten würden zu einer Stadt in Tulip aufbrechen, um dort einen Kontaktmann um Truppen zu bitten. Sie schrieb, sollte es gelingen, hätten sie genug Männer um zurückzukehren und sich gegen den König zu stellen. Sie bat mich, herauszufinden, wo dieser sich genau befindet. Hättest du eine Idee wie?"
Ich wollte ihn auf andere Gedanken bringen, was geklappt hatte, denn er wandte sich mir interessiert zu. Er war sogar etwas größer als ich, aber Sein Gesicht war noch übersät mit kindlichen Zügen. Abgesehen von der schmalen Sorgenfalte über seiner Stirn.
„Wann wird sie zurück sein?"
Wir bogen um eine Ecke und gingen durch das kleine, quietschende Tor auf den Friedhof. Vorgestern hatte erst die Beerdigung stattgefunden, aber ich war unentbehrlich im Schloss gewesen. Als ich aus dem Fenster gesehen hatte, hatte es geregnet. Mory musste ganz allein hier gestanden haben, im Regen, um sich von seinem Bruder zu verabschieden.
„Das schrieb sie nicht. Sie ist zwar schon über eine Woche weg, aber ich schätze, dass es länger dauern wird, als wir alle dachten."
Mory nickte stumm.
Wir blieben vor einem schlichten Stein stehen. Aries Name war darauf eingeritzt. Mory blieb einige Meter vor ihm stehen und starrte ihn mit leeren Augen an.
„Du hast dafür gesorgt, dass er nicht mit den anderen im Massengrab landet." murmelte Mory, als wüsste er es ganz sicher. Ich schluckte.
„Es war das Mindeste." Ich ging vor dem Stein in die Hocke und fuhr mit den Fingern die Einkerbung nach. Es tropfte eine erste Träne auf den Schoß. Ich tupfte sie mit meiner Hand weg, legte zwei Finger auf den Stein und flüsterte: „Einen für uns und einer für die Ewigkeit." So war es in Belaria und ich glaubte auch in Avendor bei Geburten, Hochzeiten und Toden Brauch. Man legt zwei Finger, Zeige- und Mittelfinger, aneinander gepresst und ausgestreckt auf die Stirn des Menschen, dem man für die Götter segnen möchte und spricht die Worte ‚Einen für uns und einen für die Ewigkeit'.
Der Erste steht für uns, das Dasein auf der Erde, die Zeit eines Lebens und all die Hinterbliebenen, und der Zweite für die Götter und die Ewigkeit.
Mory legte zwei seiner Finger auf meine und murmelte: „Danke."
Zu mehr war er nicht fähig, denn ich hörte bereits, wie brüchig seine Stimme war. Das erste Mal fiel mir das Armband an seinem Handgelenk auf. Auch die Prinzessin hatte ein solches getragen, nur ihr polierter Stein war violett gewesen. Dieser war Cobaltfarben und glänzte in der Sonne. Auch Arie hatte ein solches getragen, bemerkte ich.
Ja, seines war grünlich gewesen, mit einem hellen Lederband und erst jetzt erkannte ich es wieder. Mory trug es an seinem anderen Handgelenk. Das war zu viel.
Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und drückte Mory an mich. Es kam für ihn unerwartet, doch das erste mal überhaupt erwiderte er meine Umarmung und schniefte an meiner Schulter.
„Bekomme ich auch so ein Band?" fragte ich leise und Mory bejate unter Tränen.
„Danke." piepste er und mein Herz brach erneut. Ich gab mir die volle Schuld an Aries Tod, aber wenigstens er schien es nicht zu tun.
Bei den Göttern, wie konnte man so etwas einem einfachen Jungen nur antun?
DU LIEST GERADE
Die Belington Chroniken - Königin der Sterne
ФэнтезиIhr ganzes Leben lang war sie die hübsche und doch kluge Prinzessin, Thronerbin von Belaria. Doch was ist, wenn alles, was sie je über ihre Welt zu wissen glaubte, plötzlich auf den Kopf gestellt wird? Was, wenn alles was sie kannte, lediglich auf...