Kapitel 62

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Es musste bereits eine Stunde her sein, seit dem ich die Bibliothek verlassen hatte und langsam konnte ich mich nicht mehr vor der Wahrheit verstecken. Ich hatte mich verlaufen. Natürlich war das kein Wunder, wie hätte ich mich auch auf den Weg zurück auf den Campus von Varians Familie konzentrieren können, wenn mir doch all die Geheimnisse meiner Vorfahren und meines Landes Stück für Stück enthüllt wurden?

Die kühle Nachtluft umwehte mein Gesicht, während ich durch Vyns dunkle Straßen lief. Ich konnte das Gewicht der Briefe und des kleinen Büchleins an meiner Seite spüren, fast, als würde sich ihr sagenumwobenes Geheimnis durch meine Haut brennen, bis hin zu meinem Kopf. All diese Geheimnisse. Warum hatte meine Großmutter ihren Namen abgelegt? Warum wurde ihre Herkunft verheimlicht? Was war wirklich zwischen ihr und meinem Großvater? Und was würde all das für mich bedeuten? ich wusste es nicht, doch was ich wusste, war, dass ich es herausfinden würde. Und die sowohl das Bündel Briefe, als auch die zwei Bücher würden mir dabei helfen.

Wie von unsichtbarer Hand gestoppt, blieb ich auf der Straße stehen und blickte auf. Ich erkannte das Gebäude vor mir. Es war die Taverne, an der ich noch vor einigen Stunden mit Varian vorbeigelaufen war. Dumpfes Geplapper und Gepolter war aus ihrem Inneren zu vernehmen, auf der Straße war jedoch niemand. Von hier aus dürfte es nicht mehr all zu weit zurück sein. Ich war erleichtert, augenscheinlich doch den Weg zurück gefunden zu haben, jedoch überfiel mich augenblicklich ein anderer Gedanke. Dieser kehlige Gesang, der zuvor aus diesem Haus erklungen war, schien noch immer nicht verhallt zu sein. Er weckte mein Interesse, erneut, also nahm ich all meinen Mut zusammen und betrat die Taverne. Ich sah beinahe aus wie ein Tuliper Mädchen, was sollte schon passieren?

Vor mir eröffnete sich ein recht weitläufiger Raum und in jeder Ecke tummelten sich Menschen von unterschiedlicher Statur und unterschiedlicher Kleidung. Dieses Lied hatte ich bereits öfter gehört. Damals in Milatas Tavernen. Und Kaden hatte mir erzählt, auch er würde es kennen, wobei ich nicht wusste woher. Es war stets so bedeutungsvoll und inbrünstig gesungen worden. Etwas in mir musste wissen, was es zu bedeuten hatte. Ich sah mich etwas genauer im Raum um, immer darauf bedacht so wenig wie möglich aufzufallen, bis ich einen abgelegenen Tisch entdeckte. Er war noch frei und stand im hinteren Teil der Schankstube neben einer breiten Säule. Nachdem ich flüchtig den Sitz meines Dolches geprüft hatte, setzte ich mich und nahm das Buch vor mir zur Hand. 

Ich betrachtete es so eingehend, dass ich kaum bemerkte, wie mir jemand ein Getränk vor die Nase stellte. Die Person, eine ältere Frau mit müden Augen, lächelte mir flüchtig zu und drehte sich sogleich wieder um und bahnte sich ihren Weg hinter die Theke. Ich besah mir den Inhalt des Bechers. Bier. Nun, es war zwar nicht mein Lieblingsgetränk, jedoch verspürte ich auf einmal riesigen Durst, also nahm ich einige Schlucke. Plötzlich regte sich etwas in der Mitte des Raumes. Rund herum waren die Menschen an den Tischen still geworden und einige der Männer, aber auch vereinzelte Frauen im Raum waren aufgestanden und hatten sich in der Mitte versammelt. Eine tiefe Stimme erklang und stimmte eine Melodie an. Die Melodie.

Mit einem Mal setzten nahezu alle im Raum mit ein und ein prachtvoller Gesang entstand und schwang sich in wunderbaren Tönen wie Blütenblätter im Frühling in die Luft. Ich war wie hypnotisiert und sog die Szene in mich auf. Mein Blick viel auf ein breites, violettes Banner an der Wand hinter der Theke. Es waren vier Worte darauf, auf Tulip wahrscheinlich. Ich schlug das Buch in meinen Händen auf und bemühte mich, die Buchstaben zu übersetzen.

Die Heimat der Lilie.

Ein eigenartiger Satz. Ich dachte einen Augenblick über die Worte nach. Vielleicht der Name der Taverne? Die Lilie in Anlehnung an das tuliper Wappen? Es erschien mir plausibel. 

Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die ertönenden Gesänge und ich sah mich für einen Moment etwas genauer um. Überall erblickte ich diese typischen tuliper Gewänder. Menschen mit dunklen Haaren, allesamt bewaffnet, welche tranken, lachten und sangen. Dieses Lied war auf eine so faszinierende Weise einnehmend, dass es nicht einmal einem Instrument bedurfte. Lediglich die Tiefe und Leidenschaft der singenden Männer verlieh ihr eine unfassbare Magie.

Als die Melodie nach einigen Minuten wieder verstummte, erwachte ich wie aus Trance und räusperte mich. Ich trank noch einen kleinen Schluck des Bieres und machte mich schließlich auf den Weg zur Tür, wobei ich beim Vorbeigehen einige Münzen auf der Kante der Theke liegen ließ. Die sollten den Preis des Bieres wohl decken. Auf der Straße angelangt, wandte ich mich den Hügel hinauf und lief los. Nun war es wirklich Zeit ins Bett zu gehen. 

Ich hatte mir außerdem etwas überlegt. Morgen würde ich Ren die beiden Bücher zeigen. Ich wollte behaupten, sie auf einem kleinen Markt erstanden zu haben, mit der Absicht, die tuliper Sprache zu lernen. Er war wohl derjenige, der mir am besten etwas über sie verraten könnte. Schließlich wusste Kaden genau so wenig über Tulip wie ich und Lana und Malich wollte ich diesen Einblick in meine Interessen vorerst nicht gewähren. Ren würde mir helfen können.

Gewiss hätte ich auch auch Varian um Rat fragen können, aber irgendwie schien es mir nicht richtig. Ich war noch ganz verwirrt von dem heutigen Tag und wusste nicht, was ich denken sollte. Mit Varian hatte ich mich so unbeschwert gefühlt wie schon sehr lange nicht. Aber Kaden und ich hatten diese Verbindung, die mir trotz all dem Kummer noch nicht verloren schien. Vielleicht war es aber auch nur der Gedanke an das, was hätte sein können, wären wir in einer anderen Situation. Hatte das Leben vielleicht zu viele Prüfungen für uns?

Vielleicht sollte dies ja das Zeichen sein, um mich einem leichteren und friedvollerem Weg zu widmen?

Ich schüttelte den Kopf. Über all das konnte ich nachdenken, wenn Horan Tod und Avendor in Sicherheit wäre. Dann würde ich mich den Angelegenheiten meines Herzens widmen und mir über meine Zukunft klar werden. Diese Ungewissheit würde wohl noch ein Weilchen bestehen bleiben.

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