Ich saß auf einem Sessel in Mutters Schreibzimmer und hatte ein violettes Kissen auf dem Schoß. Vater war für einige Tage verreist und Mutter hatte das genutzt, um mich zu Unterrichten. Warum sie das tat, war mir nicht ganz klar, aber sie behauptete, es wäre zu meinem Besten. Vermutlich war dies die Strafe für meinen absolut deplatzierten Trotz. Sie marschierte schon seit Stunden vor mir auf und ab und erteilte mir irgendwelche langweilige Lektionen. Die Uhr auf ihrem Schreibtisch sagte mir, dass es bereits halb zehn war und mir brummte so langsam der Schädel. Den ganzen Tag hatte ich keine frische Luft bekommen.
Mutter endete mit ihrer Rede und sah mich prüfend an.
„Sprichst du eigentlich noch aus einem anderen Grund außer dass du dich gern reden hörst?"
„WIE BITTE?" fuhr sie mich an.
Oh Gott das hatte ich wohl laut gesagt. Du kannst aber auch nie deine dämliche Klappe halten Jillian!
Es gab nichts, das ich als Entschuldigung hätte sagen können, also senkte ich einfach den Blick. Trotzdem begann meine dämliche Klappe zu sprechen.
„Ich bin einfach so erschöpft von den ganzen Lektionen Mutter. Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen."
Als Antwort nickte sie knapp und ich spürte wie ihr missbilligender Blick meinen Rücken verbrannte. Es tat mir wirklich etwas leid. So beleidigend wollte ich gar nicht sein.
Genervt stapfte ich die Treppe nach oben in die vierte Etage. Um meinen Kopf zu leeren wollte ich auf den kleinen, in einer Nische versteckten, Balkon, den man von außen kaum entdecken konnte. Ich durchquerte das angrenzende Gästezimmer, öffnete eine halb versteckte Tür und ich war draußen. Endlich.
Aber ich war nicht allein. Kaden stand am Geländer etwa zehn Meter von mir entfernt und sein Blick schweifte über die Landschaft. Der oberste Knopf seines Hemdes war geöffnet und seine Krawatte leicht gelockert. Die Ärmel waren bis unter die Ellenbogen hochgerollt und als er den Kopf zu mir wandte fielen ihm seine Haare in die Stirn.
„Entschuldige ich wollte dich nicht stören. Ich brauchte einfach nur etwas frische Luft." Sagte ich leise, blieb mit dem Rücken an der Wand stehen und beobachtete ihn.
„ Ich wusste nicht, dass dieser Balkon dein Territorium ist."
„Oh ist es nicht, du kannst herkommen wann du möchtest. Ich hatte nur endlich eine Gelegenheit vor Mutter davon zu laufen und ich dachte, hier wäre ein gutes Versteck." Ich zuckte mit den Schultern und kam langsam auf ihn zu.
„Warum bist du hier?" ich stellte mich neben ihn und folgte seinem Blick hinaus in die Dunkelheit. Meine Hände ruhten ebenfalls auf dem Geländer und unsere Schultern waren dicht neben einander. Die Sterne über uns tanzten fröhlich zwischen den hellen Wolken, die wie Watte auf dem fast schwarzen Himmel lagen. Kaden sah etwas betrübt aus und doch spiegelten sich die Sterne in seinen Augen, wie Laternen auf dem Meer.
„Heute vor vier Jahren ist mein Bruder gestorben."
Oh.
Oh.
Sein Bruder. Ich wusste zwar schon davon, aber es so zu hören war grausam. Mit einem Mal war all mein Zorn über Mutter verraucht.Ich wusste nicht was ich sagen sollte, aber er redete zu meiner Überraschung weiter.
„Zuhause in Cavice werde ich fast tagtäglich an ihn erinnert. Durch Bilder, Skulpturen oder meinen Vater. Florian sah aus wie er, weißt du." Ich hatte ihn noch nie mit so schwacher Stimme sprechen gehört.
„ Aber er war nicht wie er, ganz und gar nicht. Eher wie meine Mutter. Ein herzensguter und freundlicher Mann, der sich wirklich für jeden in Avendor einsetzte. Er wäre ein großartiger König geworden. Aber er wird niemals die Chance haben es der ganzen Welt zu beweisen." Seine Stimme war nur noch ein flüstern und mein Herz wurde schwer wie Blei. Es war einfach nur Grausam. Ich wusste nicht was ich hätte sagen sollen, stattdessen ließ ich meine Taten sprechen. Ich legte meine Hand vorsichtig auf seine und schaute in sein Gesicht. Sein blick löste sich vom Horizont und wanderte erst zu unseren Händen, dann zu mir. Er schaute mir träge in die Augen und obwohl es für ihn ein so trauriger Tag war kribbelte alles in mir. Und ich hasste mich dafür. Trotzdem rückte ich etwas näher zu ihm und an meiner linken Seite spürte ich die von ihm ausgehende Wärme. Sie hüllte mich samt seinem milden Duft ein.
„Ich habe Angst ihn zu vergessen. Ich werde niemals so gut für ein Land sorgen können, wie er es gekonnt hätte. Und wenn ich ihn vergesse, werde ich wie mein Vater. Kalt und Menschenverachtend. Ich könnte das nicht ertragen." Er sprach mit einer solchen Trauer, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Es zerbrach mir endgültig das Herz, ihn so leiden zu sehen. Meine andere Hand fand den Weg zu seiner Wange und mein Daumen strich zärtlich über seinen Wangenknochen. Er reagierte nicht, sondern ließ es einfach geschehen.
„Du wirst ihn nicht vergessen. Und du wirst eines Tages ein guter König sein. Ich verspreche es."
Ich wusste zwar nicht wie viel ich wirklich ausrichten konnte, um dieses Versprechen einzuhalten, aber ich würde mein Bestes tun. Die bloßen Worte schienen nicht auszureichen, denn er sah immer noch unendlich gequält aus. Im Licht der Mondsichel rollte ihm eine einsame Träne über die Wange und ich wischte sie sanft weg.
Es geschah so schnell, dass ich gar nicht merkte was passiert war, bis er einen Arm um mich gelegt hatte und mich an sich drückte während seine Lippen auf meinen lagen. Meine Augen hatten sich automatisch geschlossen und meine Hand ruhte weiterhin auf seiner Wange als er sich nach einigen Sekunden von mir löste. Nur unsere Gesichter entfernten sich etwas von einander und er schaute mich noch immer traurig an. Aber jetzt strahlte etwas kleines, wahrscheinlich Unbedeutendes in seinen Augen, und es waren nicht die Sterne. Ich fühlte mich in diesem Moment extrem zerbrechlich, aber erstaunlicherweise hatte ich nicht das Bedürfnis, es zu verbergen. Auch mir rollte nun eine Stille Träne über die Wange und er wischte sie behutsam von meinem Gesicht. Wow.
Die Stimme in meinen Gedanken war nur noch ein Hauchen. Wir beide waren still und sahen uns nur an. Ich, in seinen Armen.
„Gute Nacht Jillian." Flüsterte er und dann nahm er vorsichtig die Hand von meinem Gesicht und meiner Hüfte und ging. Ich drehte mich langsam um und sah zu wie er die Tür anlehnte und dann war er verschwunden.
Einfach gegangen.
Woran es lag wusste ich nicht. Ob es die Zerbrechlichkeit des Augenblicks gewesen war, oder die tragische Geschichte, die er mir erzählt hatte, jedenfalls strömten mir die Tränen über das ganze Gesicht und tropfte an meinem Kinn hinunter. Als ich endlich in meinem Zimmer angekommen war schickte ich Amanda weg, zog mein Kleid aus und mein Nachthemd an und warf mich in mein Bett. Die Tränen liefen weiter ohne einen Grund.
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Die Belington Chroniken - Königin der Sterne
FantasíaIhr ganzes Leben lang war sie die hübsche und doch kluge Prinzessin, Thronerbin von Belaria. Doch was ist, wenn alles, was sie je über ihre Welt zu wissen glaubte, plötzlich auf den Kopf gestellt wird? Was, wenn alles was sie kannte, lediglich auf...