Kurzgeschichte

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Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, nur um in der nächsten Sekunde doppelt so schnell weiter zu schlagen. Sein Blick liegt auf mir. Es fühlt sich an, als würde er mir direkt in die Seele schauen und mich doch nicht wahrnehmen. Erkennt er mich? Für einen Moment hoffe ich, dass er es nicht tut. Ich sollte einfach wegschauen, mich von ihm abwenden und ihn einfach wieder vergessen. Aber ich kann es nicht. Es ist, als wäre ich durch seinen Blick erstarrt. Ich habe ihn seit über einem Jahr nicht gesehen, und jetzt taucht er ausgerechnet hier wieder auf. Ray.

„Ist alles in Ordnung?“ Es dauert einen Moment, bis ich mich aus meinen Gedanken reißen kann. Hayden steht neben mir und sieht mich besorgt an. „Ja, alles gut“, versichere ich ihm und setze ein Lächeln auf. Ich weiß, dass er mir nicht glaubt, aber er sagt nichts weiter. Ich nehme seine Hand und ziehe ihn zurück zu den anderen, die schon ein Stück vorgelaufen sind. „Da sind ja unsere Turteltäubchen wieder. Wir dachten schon, ihr kommt nie“, flötet Amanda. Innerlich verdrehe ich meine Augen. Meine Schwester lässt keine Gelegenheit aus, um mich und Hayden aufzuziehen.

Wir laufen weiter auf der Promenade entlang. Hayden und ich bleiben ein wenig hinter den Mädchen. Ich höre, dass sie sich unterhalten, allerdings nehme ich nichts von ihrem Gespräch auf. Meine Gedanken kreisen um das Bild, das sich in mein Gehirn eingebrannt hat – Ray, wie er dort steht, mitten in den Menschen, und doch hat es sich so angefühlt, als wären alle anderen gar nicht wirklich da, als gäbe es in dem Moment nur uns beide – und die riesige Welle der Angst, die sich in mir aufgebaut hat. Unzählige Fragen schießen mir durch den Kopf, die letztendlich aber alle auf eine Frage zurückkommen: Warum ist er hier?
Hayden merkt, dass ich gedanklich vollkommen abwesend bin, aber er versucht nicht, herauszufinden, was los ist. Er weiß, dass er dabei ohnehin keine Chance hätte. Stattdessen bleibt er bei mir und lässt meine Hand keine Sekunde los, wie um mir zu sagen, dass er da ist und ich mit ihm reden kann, sobald ich dazu bereit bin. Ob das jedoch jemals der Fall sein wird, weiß ich nicht so ganz. Wenn wir Ray nicht noch einmal über den Weg laufen, werde ich wahrscheinlich versuchen, das Ganze so gut wie möglich zu verdrängen.

Dieser Tag sollte ein schöner Tag unter Freunden werden. Das möchte ich Hayden und auch mir selbst nicht vermiesen, weshalb ich ein Schritt zulege und mich zusammen mit Hayden unter die anderen mische. So gut es geht, bleibe ich mit den Gedanken im Hier und Jetzt und schaffe es tatsächlich, mich halbwegs abzulenken. Auch Hayden entspannt sich, als er merkt, dass ich lockerer werde.

Der Nachmittag hatte wirklich eine Chance, gut zu werden. Wenn es bei dem einmaligen Blickkontakt geblieben wäre. Doch als wir alle zusammen zu der Eisdiele laufen, kommt uns eine Gruppe Männer entgegen. Es waren etwa 10 Personen, alle etwa 20 Jahre alt. Nur der, der vorne lief, war älter etwa in seinen späten 30ern. Ich hatte ihn noch nie gesehen, allerdings hatte Ray ihn mir teilweise beschrieben. Ich kannte nur seinen Nachnamen – Bauer. Er war der Betreuer aus dem Heim, in dem Ray, seitdem von zuhause weggelaufen war, gelebt hatte. Und tatsächlich, unter den Männern war auch Ray.
Es war, als würden in meinem Kopf mehrere Puzzleteile sich plötzlich an ihren richtigen Platz legen. Wahrscheinlich waren sie alle ehemalige Heimkinder, die nun zusammen mit ihrem damaligen Erzieher eine Art Ehemaligentreff oder so etwas veranstalteten. In meiner Heimatstadt. Mir ist bewusst, dass die ein beliebter Urlaubsort ist, aber trotzdem habe ich die Vermutung, dass Ray bei der Wahl der Stadt nicht unbeteiligt war.

Während wir in der Schlange der Eisdiele stehen, zieht Hayden mich zur Seite. Als wir außer Hörweite der anderen sind, sieht er mich eindringlich an. Ich weiß, welche Frage kommen wird, und weiche seinem Blick aus. „Ash, bitte, sieh mich an“, fordert er mich auf. Zögerlich tue ich es. „Du warst vorhin schon komisch. Als wir wieder bei den anderen waren, wirktest du so, als ginge es dir ehrlich besser. Deshalb habe ich nicht weiter nachgehakt. Aber jetzt plötzlich bist du wieder so. Ash, bitte, was ist los?“ In seinen Augen liegt so viel Verzweiflung, dass ich den Blick wieder abwenden muss. Ich hasse es, wenn er sich um mich sorgt und ich nichts dagegen tun kann. Ich kämpfe mit mir selbst, ringe um die richtigen Worte. Ich will es ihm sagen, aber ich kann es nicht. Als Hayden das realisiert, nickt er resigniert. Er wendet sich ab und will wieder zu den anderen gehen. „Ray“, bringe ich gerade noch über meine Lippen. Hayden dreht sich wieder zu mir. „Ray ist hier.“

Einen Moment lang sieht Hayden mich schweigend an. Ich kann den Ausdruck in seinen Augen nicht wirklich deuten. „Wo hast du ihn zuletzt gesehen?“, will er wissen. Jetzt erkenne ich ganz genau, was in meinem Freund gerade vor sich geht. Er hasst Ray für all das, was er mir angetan hat. Und auf einmal bekomme ich Angst. Nicht um Ray, der hätte nichts anderes verdient, sondern davor, dass Hayden etwas Unüberlegtes tut. Deshalb antworte ich ihm nicht direkt auf seine Frage. „Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt gerade ist. Vielleicht sind er und seine Leute auch schon gar nicht mehr hier am Strand.“ Naja, zumindest der erste Teil dieser Aussage stimmt. „Seine Leute?“, hakt Hayden nach. Innerlich verfluche ich mich selbst. Warum habe ich die überhaupt erwähnt? „Er war nicht allein unterwegs. Es waren noch ein paar andere bei ihm, vielleicht ein paar der Heimkinder von damals oder Leute von der Berufsschule oder so“, erkläre ich. Hayden nickt nur. Ich sehe ihm an, dass es in seinem Inneren immer noch brodelt und er wahrscheinlich am liebsten sofort nach Ray suchen und ihn irgendwie bestrafen möchte. Aber er erkennt selbst, dass er mir am meisten damit hilft, wenn er jetzt einfach nur bei mir bleibt und mir wenigstens ein Gefühl von Sicherheit gibt.
Gemeinsam gehen wir zurück zu den anderen, die bereits ihr Eis haben. Amanda und Lyanna übergeben uns jeweils eine Waffel mit einer Kugel Vanille. „Wir wussten nicht, was ihr wolltet, aber Vanille geht ja eigentlich immer“, erklären sie. Wir bedanken uns und gehen mit den beiden zu den anderen hinüber, die auf der Mauer sitzen und essen. Hayden bemüht sich, sich nichts anmerken zu lassen, was ihm größtenteils auch gelingt. Allerdings entgeht mir nicht die ständige Bewegung seiner Augen, während er den Strand immer wieder nach Ray absucht. Ich weiß nicht, ob er ihn überhaupt erkennen würde, schließlich hat er ihn bisher nur auf einem einzigen Bild gesehen.

Weder Hayden noch ich entdecken Ray, während wir bei den anderen sitzen. Irgendwann gehen wir zu einem Café, um etwas zu trinken und da einige der Mädchen dringend auf Toilette müssen. Dadurch sitzen Hayden und ich fast alleine draußen, als ich ihn wieder sehe. Als Hayden meinem Blick folgt, versteht er sofort, was los ist. „Ist er einer von denen?“ Ich nicke. Hass lodert in seinen Augen auf. Ich nehme Haydens Hand. Er schaut zu mir und sofort wird seine Miene weicher. Doch die Kälte ist nicht aus seinen Augen gewichen. „Es bringt nichts, wenn du ihn jetzt weiter so wütend anstarrst. Davon wird er sich auch nicht in Luft auflösen. Wir können nichts dagegen machen, dass er hier ist. Also können wir auch einfach so tun, als wäre er nicht da“, versuche ich ihn zu beruhigen. Doch die Ruhe in meiner Stimme ist gespielt. Denn seitdem ich weiß, dass Ray immer noch hier ist, fühle ich mich beobachtet. Ich habe keine Ahnung, wie ich auf eine direkte Begegnung mit ihm reagieren würde.

Unwillkürlich geht mein Blick runter zum Strand. Die Gruppe steht am unteren Ende des Deichs. Ray steht mit dem Rücken zu mir, mit dem Blick über das Wasser. Er steht ein kleines Stück abseits von den anderen. Selbst in dieser Gruppe scheint er nicht vollkommen dazuzugehören. „Ich gehe auch mal kurz auf Toilette“, verkündet Hayden und steht auf. So sitze ich allein an dem Tisch. Allerdings dürften gleich die anderen Mädchen zurückkommen. Mir wird klar, dass ich gerade nicht mit ihnen umgehen kann. Ich bin gedanklich viel zu abgelenkt, um mit ihrer guten Laune klarzukommen. Linnea kommt als erste wieder zum Tisch. „Ich gehe kurz spazieren, falls die anderen fragen“, teile ich ihr mit. Sie nickt nur und fragt nicht weiter nach. In diesem Moment bin ich froh, dass sie als erste wieder da war. Alle anderen hätten wahrscheinlich wissen wollen, wo ich hingehe, oder vielleicht noch mitkommen wollen.

Ich gehe die Promenade entlang. Immer wieder schaue ich runter zu der Gruppe. Die hat sich inzwischen auch in Bewegung gesetzt und läuft mit bloßen Füßen durch das flache Wasser. Als ich außer Sichtweite des Cafés bin, setze ich mich auf die Mauer. Die seichten Wellen zu beobachten, hatte schon immer eine beruhigende Wirkung. Allerdings verfliegt diese in dem Moment, als sich ein bekanntes Gesicht in mein Blickfeld bewegt. Ray läuft alleine über die Wiese auf dem Deich. Direkt auch mich zu. Mein erster Instinkt ist, einfach wegzulaufen. Doch ich bin wie erstarrt. Panik macht sich in mir breit, aber ich kämpfe sie nieder. Es ist eh zu spät. Und immerhin sitze ich auf der Mauer. Im Notfall kann ich schneller fliehen als er mir folgen kann. Vorausgesetzt, dass ich mich dann bewegen kann.

Ein neues Gefühl breitet sich in mir aus. Ich habe mir sooft ausgemalt, wie ich ihm all die Dinge entgegenschleudere, die ich denke, wenn ich mich an ihn erinnere. Ich bin so voller Wut auf ihn, dass ich von der Mauer herunterspringe und auf ihn zugehe. „Ashley“, fängt er an. Er schaut kurz über seine Schulter. Wahrscheinlich will er sich vergewissern, dass die anderen ihn nicht sehen, insbesondere Herr Bauer. Der weiß mindestens einen Teil von dem, was zwischen mir und Ray passiert ist. Und er würde es ganz sicher nicht befürworten, dass Ray mit mir redet.

Er setzt wieder zum Sprechen an, aber ich unterbreche ihn. „Bevor du jetzt mit ekelhaftem Kitsch anfängst und so etwas wie „wir haben uns ja schon so lange nicht gesehen“ oder „ich habe dich ja so vermisst“ sagst, bewahre ich uns beide lieber mal davor. Ich will auch gar nicht wissen, warum du hier bist. Okay, ehrlich gesagt interessiert es mich schon, aber vorher will ich, dass du weißt, dass ich gerade aus einem einzigen Grund hier mit dir rede. Und zwar weil ich, seit ich dich gesehen habe, den Drang habe, dir endlich mal klar zu sagen, was für ein beschissenes Arschloch du bist. Du hast mich verletzt, wie es sonst noch keiner geschafft hat. Ja, wahrscheinlich warst du so dumm, dass du das nicht mal selbst gemerkt hast. Doch was auch immer dich hierher geführt hat und warum auch immer du denkst, dass du vielleicht noch normal mit mir reden könntest, es wird nichts daran ändern, dass ich dich hasse. Für alles, was du mir angetan hast. Du hast mein verdammtes Leben zerstört. Du hast mich für immer traumatisiert. Du kannst dir wahrscheinlich nicht mal vorstellen, wie scheiße es mir ging. Aber ich habe mich da rausgekämpft. Weil ich stärker war als du. Weil ich stärker war als der ganze Scheiß, den du mir angetan hast. Aber glaub mir, es gibt nichts was ich mir mehr wünschen würde, als dass du für all das bezahlst.“
„Das habe ich“, unterbricht mich Ray. „Ich habe dafür bezahlt. Ich weiß, ich habe damals Vieles falsch gemacht. Und es tut mir leid.“ Ich lache auf. Selbst in meinen Ohren klingt dieses Lachen unheimlich. „Es tut dir leid? Das ist ja mal was. Du hast einen Teil von mir fast komplett zerstört. Für dich war ich doch nur eine von den vielen Freundinnen, die du hattest und die du vielleicht auch für immer verletzt hast. Ein Spielzeug, das du benutzt hast, und dann, als es zu kompliziert wurde, hast du mich weggeschmissen. Aber weißt du was, ich bin dir fast dankbar dafür, dass du mich hast fallenlassen. So habe ich wenigstens deine echte Seite gesehen, wie kalt und ekelhaft du wirklich bist.“
Sein Blick gleicht dem eines kleinen Kindes, wenn man es angeschrien und sein Lieblingskuscheltier kaputt gemacht hat. „Das war nicht mein echtes Ich. So bin ich nicht. Und du warst nicht nur irgendjemand für mich. Ich habe dich geliebt, Ashley. Und ich liebe dich immer noch.“
Obwohl ich es hätte wissen müssen, dass er immer noch etwas für mich empfindet, haut es mich in diesem Moment doch um. Am meisten, weil ich erstaunt bin, wie sehr man sich selbst belügen kann. „Du kannst nicht lieben, Ray. Erst recht nicht mich. Du warst besessen von mir, bist es wahrscheinlich immer noch. Du hast mich für deine ekelhaften Fantasien benutzt. Aber Liebe, Liebe war da nie im Spiel.“
In diesem Moment bricht etwas in ihm. Doch was auch immer es war, mit diesem Teil bricht auch das letzte bisschen seines Verstandes, falls er den jemals besessen hat. „Ich bitte dich Ashley, verzeih mir. Ich habe Fehler gemacht. Ich war bei einer Therapeutin, ich habe mich gebessert. Nachdem ich dich verloren habe, war ich verletzt, gebrochen, ich war in dem tiefsten Loch, in das ich jemals gefallen bin. Aber die Hoffnung, dass ich dich irgendwann wiederfinde, die hat mich am Leben gehalten.“
Der Hass und die Übelkeit, die sich bei seinen Worten in mir ausbreiten, lassen meine Stimme zu Eis werden. „Weißt du was, Ray? Du hast dich nicht gebessert, kein bisschen. Sonst ständest du jetzt nicht hier. Aber das ist dein Problem. Es ist mir egal, was du gemacht hast, nachdem du mit mir zusammen warst. Für mich zählt, was du gemacht hast, als du bei mir warst. Und das, das werde ich dir nie verzeihen. Denn im Inneren bleibst du immer der ekelhafte Vergewaltiger.“
Bei dem letzten Wort zuckt er zusammen. „Ich habe dich nicht…“ Er bringt das Wort nicht über seine Lippen. „Ich habe dich geliebt. Ich liebe dich, Ashley.“
„Okay.“ Dieses einzelne Wort lässt ihn innerlich vollkommen zusammenbrechen. Doch das einzige, was das bei mir auslöst, ist ein Gefühl des Sieges. Er leidet nicht wie ich. Aber ich habe gerade ein großes Stück dazu beigetragen, dass es ihm schlechter geht. Und gleichzeitig konnte ich einen Teil meines Hasses endlich an ihm auslassen.

Ray kämpft mit sich selbst. Auch bei ihm ist anscheinend angekommen, dass er bei mir keine Chance mehr hat. Zumindest nicht jetzt. „Okay“, flüstert er und wendet sich ab. Doch eine Sache will ich noch loswerden. „Ray, warte!“, rufe ich. Die Hoffnung, die in seinen Augen aufblitzt, lässt mich fast schadenfroh auflachen. „In einem Punkt hattest du Recht“, fange ich an. Er sieht ich fragend an. „Hayden und ich sind jetzt zusammen.“ Es trifft ihn wie einen Pfeil, den ich direkt auf ihn geschossen habe. Doch der nächste trifft ihn direkt ins Herz, falls er das überhaupt besitzt. „Ich habe ihn die ganze Zeit geliebt, auch als ich mit dir zusammen war.“ In diesem Moment sehe ich das erste Mal Hass in seinen Augen aufblitzen. Und ich weiß, dass der ihn nun für immer zerfressen wird. Denn von nun an wird er mich hassen wollen, obwohl er mich immer noch liebt und nie jemanden in mir sehen wollte, der ihm das Herz bricht. Aber genau das habe ich gerade endgültig getan, und es fühlt sich so unendlich gut an.

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