Fair?

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(TW! Indirekte Erwähnung von SA, Suizidgedanken und Depressionen!)

Es ist so verdammt unfair.
Ich sitze hier, jeden verdammten Abend, denke über mein Leben und über dich nach, denke daran, was du mir angetan hast. Alleine.

Immer wieder triggern andere in meinem Umfeld die Erinnerungen, die meisten, ohne zu wissen, dass mir jemals etwas in der Art passiert ist. Sie haben keine Ahnung, wie stark es mich beeinflusst. Sie haben keine Ahnung, welche Erinnerungen und Gefühle davon geweck werden, wenn sie über dieses Thema reden, wie sehr es mich belastet.
Jeder denkt, er wüsste wovon er redet. Jeder denkt, sie wüssten, welche Auswirkungen es auf die Opfer hat. Jeder dankt, dass er die Betroffenen verstehen könnte, dass er verstehen würde, wie es einem danach geht.
Sie verurteilen die Täter, die sie nicht kennen. Doch sie verstehen nie, was wirklich dahinter steht. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man den Täter kannte, ihn liebte.
Sie verstehen nicht, was es bedeutet, so etwas erlebt zu haben. Sie können es sich nicht vorstellen.
Vor allem aber können sie sich niemals vorstellen, dass irgendjemand aus ihrem Umfeld irgendetwas damit zu tun haben könnte - weder als Opfer noch als Täter.

Ich mache ihnen nicht einmal wirklich einen Vorwurf. Ich habe ihnen nichts davon erzählt. Sie können nicht wissen, wie dieses Thema auf mich wirkt. Und ich kann auch nicht verlangen, dass sie vollkommen verstehen, wie es mir damit geht.
Ich war vorher auch nicht besser. Ich habe gedacht, ich könnte die Opfer verstehen. Es ist mir erst durch dieses Erlebnis klar geworden, wie weit ich von der Realität entfernt war. Ich wusste, dass es grausam sein musste. Aber ich habe nie verstanden, in vielen Hinsichten und wie stark es die Opfer beeinflusst. Bis ich es am eigenen Leib erfahren habe.

Es ist in jedem Bereich des Lebens präsent. Es wird zu einem Schatten, der dich dauerhaft begleitet und der jederzeit deine Gedanken übernehmen kann, wenn er getriggert wird. Flashbacks, kurze Erinnerungsfetzen, das Gefühl von damals, das kurz einmal aufblitzt - sie kommen unerwartet und dafür umso heftiger. Teilweise nur für wenige Sekunden, aber sie wirken deutlich länger nach.
Ein falsches Wort, ein Hauch von deinem Geruch, dein Name, und sofort sind Teile der Erinnerungen wieder da. Nicht jedes Mal werden alle Erinnerungen getriggert und nicht immer sind es die heftigsten. Doch egal welche Erinnerung es ist, sobald sie da ist, ist der Weg für alle anderen deutlich leichter.

Und es lässt nicht nach. Gut, die Erinnerungen werden nicht mehr durch alle Trigger gleichstark ausgelöst. Teilweise kann ich sie inzwischen besser unterdrücken oder mich wieder beruhigen, wenn sie da sind. Aber die Erinnerungen, die Gefühle, die sie auslösen, sind noch immer dieselben. Und die werden sich nie ändern, sie werden mich vermutlich mein ganzes Leben lang begleiten, ein Teil von mir sein.

Es ist über ein Jahr her, doch manchmal fühlt es sich an, als wäre es nur wenige Tage her. Es ist immer noch so präsent, so vernichtend. Ich leide, immer noch und wahrscheinlich noch lange.

Dir geht es so viel besser.

Du hättest Depressionen und Suizidgedanken, seitdem wir nicht mehr zusammen sind, hast du gesagt. Es ginge dir so schlecht, du würdest so sehr leiden, weil ich dich verletzt hätte.
Nur vernachlässigst du dabei, dass es mir in der Hinsicht nicht besser geht, abgesehen davon, dass ich dank dir zusätzlich auch noch ein Trauma habe, mit dem ich irgendwie leben und umgehen muss.
Ich will dir deine Gefühle nicht absprechen - das bleibt dein Fachgebiet, nicht meins. Ich glaube dir, dass es nicht leicht ist, die einzige Person zu verlieren, die so dumm, feige und naiv war, bei dir zu bleiben.
Allerdings bleibt da immer noch der Aspekte, dass ich dich nie mehr verletzt habe als du mich. Ganz im Gegenteil, ich glaube nicht, das irgendetwas, das ich jemals getan habe, auch nur ansatzweise in die Nähe von deinen Handlungen kam.
Aber gut, kann ja sein, dass sich bei dir nach all der Zeit mal so etwas wie Verstand und ein Gewissen gemeldet haben und du jetzt Schuldgefühle hast, wegen dem, was du mir angetan hast.

Wie dem auch sei, das ich nicht der Hauptpunkt, den ich aufzeigen will. Denn von uns beiden bist du - der mich verletzt und traumatisiert und benutzt hat - es, der jetzt in Therapie ist, dem geholfen werden muss.
Vielleicht kannst du dir ja vorstellen, wie entsetzt und wütend ich war, als ich das herausgefunden habe. Gut, ich weiß nicht, weshalb du genau in Therapie bist, ob es deine Depressionen oder, nennen wir es mal, "sexuellen Probleme" sind. Bei Letzterem fände ich es im Prinzip sogar gut, wenn du deswegen in Therapie bist - nicht, weil es mir so wichtig wäre, wie es dir geht, sondern zum Schutz deines Umfelds. Allerdings hoffe ich dann inständig, dass es nicht noch ein oder gar mehrere Mädchen gebraucht hat, bis du verstanden hast, dass du ernsthaftige Probleme in der Hinsicht hast. Denn das, was du mit mir gemacht hast, hat definitiv niemand verdient.

Doch was hast du dafür verdient?
Ich habe so oft darüber nachgedacht, dich anzuzeigen. Ich wollte, dass alle wissen, wer du wirklich bist, dass du dafür bestraft wirst, was du mir angetan hast, dass du eine gerechte Strafe bekommst. Aber ich wusste gleichzeitig, wie schwer es für mich ist, daran erinnert zu werden, was passiert ist, und dann auch noch darüber zu reden.
Doch als ich mich dagegen entschieden habe, habe ich definitiv nicht gedacht, dass du am Ende nicht nur nicht bestraft wirst, sondern dass dir auch noch geholfen wird, während ich Tag für Tag mit meinen Gedanken kämpfe.

Du kannst nicht sagen, dass das fair wäre. Ja, du kannst nichts dafür, dass ich nicht in Therapie gehen kann. Aber trotzdem fühlt es sich an, als wärst du plötzlich das Opfer und ich am Ende wahrscheinlich noch der Täter, der dich verletzt und damit in die Depressionen und Suizidgedanken getrieben hat.

Ich hoffe nur, dass du irgendwann verstehst, wie groß der Schaden ist, den du angerichtet hast, und welch eine große Chance du durch die Therapie hast. Und ich hoffe, dass du sie wirklich nutzt, zum Schutze aller, die je in dein Umfeld kommen werden.

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