Kurzgeschichte

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„Ashley!", ruft Amanda, meine Schwester, kaum dass sie die Wohnungstür aufgeschlossen hat. Ich werfe Hayden und Lyanna, meinen beiden besten Freunden, einen verwunderten Blick zu. Bis mir einfällt, dass Amanda gerade unten war. Und dabei kontrolliert sie jedes Mal auch den Briefkasten. Ich vermute, dass es damit zusammenhängt. Und auch wenn ich keine Ahnung habe, worum es geht, beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. „Ich glaube, sie will, dass du zu ihr gehst", meint Lyanna. Ich nicke. „Klar", sage ich und stehe auf.


Amanda hält einen Briefumschlag in der Hand. Als sie mich kommen sieht, reicht sie ihn mir. In ihrem Blick liegt Überraschung, aber auch Verwunderung und Unsicherheit. Trotzdem lächelt sie. Verwirrt schaue ich selbst auf den Briefumschlag. Es steht kein Absender darauf, doch die Schrift, in der mein Name geschrieben ist, würde ich immer wiedererkennen. „Nein", fluche ich leise. Jedoch nicht leise genug, sodass Amanda es trotzdem hört. „Wirst du ihn lesen?", fragt sie. Ich zucke mit den Schultern. „Mal sehen." Ich stecke den Brief in die Tasche meines Hoodies und gehe wieder zurück in mein Zimmer, wo mmich die anderen beiden neugierig ansehen. „Und, was gab's?", fragt Hayden. „Nichts Besonderes, nur ein Brief ohne Absender. Les ich mir später durch", erkläre ich. Ich ziehe den Brief aus der Tasche und verstaue ihn in meinem Schrank. Als ich mich wieder zu den anderen umdrehe, lächle ich. Doch an Lyannas Blick erkenne ich sofort, dass sie mir das Lächeln nicht abkauft. Sie hat die Schrift auch erkannt.



Ich setze mich wieder zu den anderen, und auch Amanda gesellt sich wieder zu uns, wobei ich mich neben Lyanna und sie sich neben Hayden setzt. „Ich denke, ich war dran, nicht wahr?", meint Amanda und meint damit das Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel, dass wir vorhin schon gespielt haben. Wir anderen drei nicken. „Hayden, Wahrheit oder Pflicht?" „Pflicht", wählt dieser. „Tausch mit Lyanna Plätze", fordert Amanda ihn mit einem Grinsen auf. Ich schieße ihr einen Todesblick zu, doch auch der kann nicht verhindern, dass sich meine Wangen leicht rot werden. Innerlich verfluche ich Amanda. Sie will noch immer mich und Hayden verkuppeln - nicht, dass ich was dagegen hätte, wenn es klappen würde. Außerdem glaubt inzwischen wahrscheinlich eh die Hälfte der Klasse, dass wir zusammen sind.


Und, wie erwartet, sobald er neben mir sitzt, werden meine Wangen noch ein wenig roter und ich muss ziemlich gegen den Drang ankämpfen, ein Stück näher an ihn heran zu rutschen. Lyanna kichert noch immer, und auch Hayden und Amanda grinsen. Sie alle wissen, was ich für Hayden empfinde und ziehen mich nur zu gerne damit auf.



„Ashley, Wahrheit oder Pflicht?", fragt Hayden mich. Ich sinke in mir zusammen. Allerdings weiß ich nicht, ob es daran liegt, dass ich mich schon jetzt innerlich darauf vorbereite, welche Wahrheit-Frage er wohl für mich vorbereitet hat, oder daran, dass ich, wann immer er mich mit meinem Namen anspricht, dahinschmelzen könnte. "Wahrheit", antworte ich. „Weißt du, von wem der Brief ist?", möchte er wissen.



Sämtliche Farbe weicht aus meinem Gesicht. Ich hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. „Sag einfach nein!", schreien mir meine Gedanken zu. Aber ich sage gar nichts. „Es stand kein Absender drauf", springt Amanda für mich ein. Ich schaue zu Lyanna. Ich sehe sofort, dass sie ganz sicher weiß, von wem dieser Brief ist. „Die Frage ging an Ashley", erinnert Hayden Amanda. „Also?" „Ja, ich weiß es", sage ich. Haydens fragender Blick liegt noch immer auf mir. Für einen Moment bin ich versucht, ihm zu sagen, dass er nur gefragt hat, ob ich es weiß. Aber ich sage es ihm trotzdem: „Ray."



Für einen Moment ist es vollkommen still. Lyanna nickt leicht. Ihre Vermutung wurde bestätigt. „Schmeiß ihn weg, ohne ihn zu lesen", bricht Hayden das Schweigen. „Nein", entgegne ich und bin über diese Antwort genauso überrascht wie er. Er sieht mich prüfend an, aber er sieht ein, dass er keine Chance hat. Ich werde diesen Brief nicht wegschmeißen, solange ich nicht weiß, warum er geschrieben hat - nach 2 Jahren, in denen wir absolut keinen Kontakt hatten. „Okay", lenkt er ein. „So, Ashley, du musst aussuchen, und ich muss mal kurz auf Toilette." Ich lasse ihn durch und frage Amanda: „Wahrheit oder Pflicht?".

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