Wer sind Sie?

7 0 0
                                    

Er klopfte an die Tür. Daneben hing ein Schild mit der Aufschrift "Liona Firell". Er schaute den Flur hinunter, bis er ein leises "Ja?" hörte. Er öffnete die Tür und trat ein. Ein Schwall der typischen, unangenehmen Geruchs, der ihr Zimmer immer füllte, kam ihm entgegen. "Liona", begrüßte er sie. Sie dreht den Kopf zu ihm, doch ihr Blick schien an ihm vorbei zu gehen. Er ignorierte den Stich, den diese Erkenntnis ihm versetzte.

Er ging durch den Raum zu dem Sessel, auf dem sie saß. Ihr Blick folgte ihm, und inzwischen wirkte er auch ein wenig klarer. "Rodger", kam es ihr leise über die Lippen. Ihre Stimme war brüchig. Er griff nach ihrer Hand, die auf der Lehne lag. Sie drückte seine leicht, was ihn ein wenig zum Lächeln brachte. Nach dem Schlaganfall war ihre linke Seite fast vollständig gelähmt gewesen, doch sie hatte sich seitdem ein wenig erholt.

Lionas Blick wurde wieder abwesender und wanderte zu der Wand, an der die Bilder ihrer Enkel hingen. Tränen sammelten sich in ihren Augen, aber sie sagte nicht. Er kannte diesen Zustand. Selsbt wenn er sie jetzt ansprechen würde, würde sie vermutlich nicht reagieren. Deshalb setzte er sich auf ihr Bett - der Sessel, auf dem Liona saß, war außer dem Bett die einzige Sitzmöglichkeit im Raum.

"Mein Freund hat vorhin wieder angerufen", sagte sie plötzlich.
"Liona. Ich bin dein Lebensgefährte", erinnerte er sie. Doch sie nahm seine Worte nicht wahr.
"Er will mich bald hier abholen", fuhr sie fort. Dabei nickte sie langsam mit dem Kopf. Ein leicht trauriges Lächeln lag auf ihrem Gesicht. "Dann bin ich auch wieder bei den Kindern." Eine Träne löste sich aus ihren Augen und rann über ihre Wange.

"Es wird dich niemand abholen", versuchte er es erneut. "Du gehörst doch hier her. Zu mir."
Bei den letzten Worten brach seine Stimme. Der "Freund", über den sie sprach, war eine Art Halluzination von ihre. Die Einbildung eines Menschens, zu dem sie sogar einen vollständigen Lebenslauf erschaffen hatte. Doch er existierte nicht wirklich. Auch wenn Liona das glaubte.

Dieser "Freund" war ihr immer wichtiger geworden. Zuerst war er nur irgendein Freund, doch inwzischen ist er wie ein Partner für sie. Dabei war Rodger ihr Lebensgefährte. Er liebte sie. Er war immer bei ihr gewesen. Selbst nach dem Schlaganfall. Doch nun drängte ihn dieser "Freund" aus ihrem Leben, der nicht einmal wirklich existierte. Immer mehr verlor er den Zugang zu Liona. Und das machte ihm Angst. Er wollte, er konnte sie nicht verlieren. Sie war doch die einzige, die ihn wirklich liebte.

"Lass uns zum Tee gehen. Die anderen warten bestimmt schon auf dich, Liona", schlug er vor.
Er stand auf, um den Rollstuhl zu holen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass er es alleine nicht mehr schaffen würde, sie von dem Sessel auf den Rollstuhl zu heben. In diesem Moment fühlte er sich so unendlich schwach. Er schaffte es nicht einmal mehr, ganz für seine Geliebte sorgen zu können.

"Ich hole kurz eine der Pflegerinnen, okay? Ich bin gleich wieder da."
Plötzlich lag ihr Blick wieder auf ihm, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht war ihm vollkommen fremd. "Liona?", versuchte er es erneut. Ihre Augen weiteten sich panisch. "Wo ist er? Und wer sind Sie? Woher kennen Sie meinen Namen?!"

Er glaubte, sein Herz förmlich brechen zu hören. Sie hatte teilweise schon mal länger gebraucht, um ihn zu erkennen, oder ihn mit falschen Namen angesprochen. Doch sie hatte ihn nie gar nicht mehr erkannt.

War das der Dank der Liebe? Dass er selbst den letzten Menschen, den er liebte, der ihn liebte, verlieren musste? Er hatte immer an ihrer Seite gestanden, hatte sie beschützt, ihr geholfen. Doch anscheinend war das alles nicht genug gewesen.

Gedankenwelt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt