Endloser Fall?

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Ich falle. Niemand sieht es. Ich bin gefangen, allein in meinen Gedanken. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht, ich weiß nicht, was mich am Grund erwartet. Alles in mir bereitet sich auf den Aufprall vor.

Der Fall ist endlos. Es ist kein Ende in Sicht. Und doch ist das Ende das Einzige, auf das ich warte. Ich hoffe, dass es vorbei ist, dass ich nicht noch tiefer fallen kann. Doch es fühlt sich an, als würde ich in Zeitlupe fallen. Die Zeit zog sich, quälend, immer länger. Kein Entkommen, keine Hoffnung. Es gibt keinen Weg zurück nach oben. Es war eine Ewigkeit her, dass ich über die Kante dieser Schlucht gestoßen wurde. Solange, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnere, wann es war und wer mir den letzten Stoß verpasst hatte, wer es geschafft hatte, mich so dicht an den Abgrund zu drängen, dass kein anderer Ausweg blieb als der Sprung in die endlose Tiefe.

Mal falle ich frei, mal bleibe ich hängen. Kurze Moment der Hoffnung, dass ich vielleicht doch einen Weg finde, dem endgültigen Boden, dem vollkommen Absturz zu entkommen. Der Aufprall, das Hängenbleiben ist schmerzhaft, doch die Hoffnung gibt Kraft, lässt mich den Schmerz vergessen. Ich schaffe es, mich festzuklammern und ein Stück hochzuziehen. Doch ich bin schon viel zu lange gefallen. Ich habe keine Kraft mehr. Jedes noch so kleine Stück ist anstrengend, es wird immer anstrengender. Es ist unmöglich, zurück an die Oberfläche zu kommen. Ich bin gefangen in der einsamen Schlucht. Doch ich suche Schutz, suche nach einer Höhle in der Felswand, in der ich unterkommen kann, die mich vor einem noch tieferen Fall schützt.

Ich hatte es einmal geschafft, in eine solche Höhle zu kommen. Es war seine Höhle. Ich dachte, ich hätte einen Schutzraum gefunden, dass ich nun endlich sicher gewesen wäre. Ich hatte in seiner Höhle Schutz gesucht, und er hat mir Sicherheit gegeben. Er hat mich aufgebaut, hat mir Kraft geschenkt. Doch schon immer war er von dieser finsteren, giftigen Aura umgeben. Ich habe sie ignoriert. Zu sehr war ich abhängig von der Kraft und dem Schutz, den er mir gab. Am Anfang hat er seine gefährliche Seite versteckt, hat mich eingefangen wie eine Spinne, in einem Netz aus Zucker. Ich bin in sein Netz geflogen wie ein dummes, naives Insekt, zu sehr darauf konzentriert, die Süße davon zu genießen, und zu blind, um das pure Gift zu sehen, das nur wenig entfernt auf dem Netz saß und darauf wartete, dass ich mich immer mehr in dem Netz verhedderte, bis er zuschlagen konnte. Stillschweigend hat er dabei zugesehen, wie ich immer mehr von der Süße wollte, wie ich durch den Zucker langsam wieder etwas Kraft gewann. Ich lebte damals in der Hoffnung, dass diese reichen würde, um endlich wieder an die Oberfläche zu kommen.

Doch mit der Zeit er ist langsam näher gekommen. Er, die Spinne, die nur darauf wartete, ihr Opfer endlich umzubringen. Ich war wie benebelt. Viel zu spät habe ich gemerkt, wie nah und real die Gefahr die ganze Zeit gewesen war. Er hat angegriffen. Der Zucker, aus dem das Netz gesponnen war, verwandelte sich in Gift, in dasselbe Gift, das durch sein Blut floss. Das Gift, dessen einziges Ziel es war, mich zu vernichten. Doch ich war stärker geworden. Er hatte zu lange gewartet, er konnte mich nicht mehr vollkommen brechen.

Ich entkam seinem Netz. Doch seiner Falle zu entkommen hieß auch, die Höhle zu verlassen. Der Fall danach war anders als zuvor. Mein Herz war vollkommen gebrochen. Es gab nichts mehr, was mich davon abhielt, immer tiefer zu fallen. Der Fall war schmerzhafter, quälender als zuvor. Ich hatte aufgegeben. Ich hatte keine Hoffnung mehr. Denn wie sollte ich jemals wieder vertrauen? Jeder Halt, der aus der Wand ragte und an dem ich mich hätte festhalten können, war nur noch ein weiteres Hindernis, ein weiterer schmerzhafter Aufprall vor dem endgültigen, unverhinderlichen Aufprall auf dem Grund der Schlucht. Ich wollte, dass es endete, ich wollte endlich das Ende erreichen. Jegliche Hoffnung kam mir wie eine Verschwendung, ein Hindernis vor, ein weiterer Versuch des Schicksals, mich noch mehr zu verletzen.

Ich war überzeugt, dass es keine wahre Hoffnung mehr für mich geben konnte. Nichts und niemand hätte mich mehr retten können. Doch vielleicht gibt es sie ja doch noch?

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