Kapitel 01

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Yoongi beobachtete, wie die Landschaft sich veränderte. Die grünen Felder wichen langsam großen Hochhäusern und Wolkenkratzern, die majestätisch in die Höhe ragten, und ehe er sich versah, passierten sie die Stadtgrenze von Gwangju, einer Stadt, in der Yoongi bereits seit etlichen Jahren nicht mehr gewesen war.

Immer wieder sah Yoongi auf sein Handy, obwohl er es mitbekommen hätte, falls jemand ihm eine Nachricht geschickt hatte. Aber wer sollte ihm schon schreiben? Alle Freunde hatten sich von ihm abgewandt, als er ihnen - damals noch unter dem Namen Yoonji und mit weiblichen Pronomen - gesagt hatte, dass er sich unter dem Namen Yoongi wohler fühlte. Am nächsten Tag hatte Mingyu nicht vor seiner Haustür auf ihn gewartet, um zusammen zur Schule zu fahren. In der Schule hatten Yoongis Freunde sich dann über seine neue Schuluniform lustig gemacht. "Wo ist denn dein Rock hin, Yoonji?", hatten sie gerufen.

Jetzt war Yoongi in einer fremden Stadt etwa 300 Kilometer westlich von seiner Heimatstadt Daegu und hatte nicht mehr Freunde als zuvor. Der einzige Unterschied war, dass er nicht mehr bei seinen Eltern, sondern bei seinem Onkel Hyunwoo, seiner Tante Soojin und seinem Cousin Jimin wohnen würde.

Der Bus verlangsamte seine Fahrt, während er durch das Stadtzentrum rollte. Die Straßen wurden belebter, das Geräusch des Verkehrs dröhnte in Yoongis Ohren und vermischte sich mit der Musik, die von seinen Kopfhörern kam. Als das Lied "Fire on Fire" von Sam Smith, seinem Lieblingsinterpreten, spielte, übersprang Yoongi es nicht, wie viele andere sonst es getan hätten, wenn sie dieser Song an ihre verstorbene Familie erinnerte. Er lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe, genoss die angenehme Kühle des Glases und lächelte leicht.

Natürlich vermisste er seine Familie - immerhin hatten seine Eltern ihn ganze sechzehn Jahre großgezogen - aber seit seinem Outing als Trans-Junge hatte sich so einiges in seiner Beziehung zu seinen Eltern verändert. Es waren Dinge passiert, an die er sich nicht gerne erinnerte.

Der Bus hielt endlich an, und Yoongi richtete sich auf, sein Handy in seine Hosentasche steckend. Er atmete tief durch, bevor er langsam aufstand und sich durch den Gang zum Ausgang bewegte. Die Tür des Busses glitt mit einem Zischen zur Seite, und Yoongi trat hinaus auf den Bürgersteig von Gwangju.

Die Luft roch anders hier, anders als in Daegu. Es war nicht nur der Geruch von Abgasen und geschäftigem Treiben, sondern es fehlte auch etwas Grundlegendes, das Yoongi nicht benennen konnte. Eine Vertrautheit, die er in Daegu gefunden hatte, war hier nicht zu spüren. Er fühlte sich wie ein Fremder in dieser Stadt, die nun sein neues Zuhause sein sollte.

Ein Flattern der Panik stieg in Yoongi auf, als er sich umsah. Die Menschen eilten an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, und die Gebäude schienen ihn erdrücken zu wollen mit ihrer Größe und ihrem Drängen. Er unterdrückte den Wunsch, einfach umzukehren und den nächsten Bus zurück nach Daegu zu nehmen. Aber er wusste, dass es nichts mehr gab, was ihn in Daegu erwartete. Er hatte dort keine Freunde, keine Familie, nichts. Nur die Erinnerungen, die schönen als auch die schrecklichen.

Yoongi schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Er zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auch, wenn hier in Gwangju ähnliche Temperaturen wie in Daegu herrschten, schien die Luft hier um einiges wärmer, um einiges erstickender zu sein. Der kühle Wind strich durch seine kurzen, ungestylten Haare und entblößte seine Stirn, die ihm schon immer zu groß gewesen war.

Immer wieder musste Yoongi einen kurzen Blick auf sein Handy werfen, um nachzuschauen, ob er noch auf dem richtigen Weg war. Von der Bushaltestelle bis zu der Wohnung seines Onkels waren es zwar nur etwa 400 Meter, aber die Straßen waren mit Menschen überfüllt und Yoongi hatte nicht den besten Orientierungssinn, vor allem nicht, wenn er sich mehr darauf konzentrierte, sich durch die Menschenmasse zu quetschen, möglichst ohne einen der nass geschwitzten Körper zu berühren.

Die Geräuschkulisse um ihn herum war überwältigend. Stimmen drangen an sein Ohr, das Lachen von Kindern, das Klappern von Geschirr aus den umliegenden Restaurants, das Hupen der Autos – all das verschmolz mit der Musik zu einem ohrenbetäubenden Rauschen, das Yoongis Kopf fast zum Platzen brachte.

Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er einen Blick auf die Adresse warf, die er sich aufgeschrieben hatte. Ein paar Blocks weiter, dann links abbiegen, und dann sollte er die Straße finden, in der sein Onkel wohnte. Er atmete tief durch und setzte seinen Weg fort, die Riemen seines Rucksacks fest umklammert, als ob sie ihm Sicherheit geben könnten in dieser fremden Umgebung.

Schließlich erreichte er die Straße, in der sein Onkel wohnte. Die Häuser waren eng beieinander gebaut, die Fensterläden in verschiedenen Farben gestrichen. Yoongi suchte nach der Hausnummer und atmete erleichtert auf, als er sie endlich entdeckte.

Die Wohnung seines Onkel lag in einem großen Backsteinhaus mit vielen Balkonen. Yoongi schaute blinzelnd nach oben. Ein Balkon war mit Pflanzen überwuchert, an einem anderen war Wäsche aufgefangen, ein anderer war vollkommen leer. Jeder schien anders zu sein und Yoongi fragte sich, welcher wohl zu seiner Familie gehörte. Auf diese Frage gab es nur eine Antwort und, um diese zu bekommen, musste Yoongi bei dem Namen 'Park H. & S.' klingeln. Er stieg die Treppen hoch zum Eingang des Gebäudes und drückte den Knopf neben dem Namensschild. Ein paar Augenblicke später hörte er das Summen des Türöffners, und er trat in das Gebäude ein.

Der Flur roch nach frisch gewischtem Boden und einem Hauch von Kochdüften, die aus den verschiedenen Wohnungen drangen. Yoongi folgte den Anweisungen seines Onkels und stieg die Treppe hinauf zum dritten Stock. Er zog seinen Rucksack fester um seine Schultern und klopfte an die Tür mit dem Namen 'Park H. & S.'

Ein Moment der Stille verging, bevor die Tür sich langsam öffnete. Yoongi stand einem Mann gegenüber, der seinem Onkel ähnelte, mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. "Hallo, du musst Yoongi sein", sagte der Mann freundlich. "Ich bin Park Hyunwoo, dein Onkel. Lange nicht gesehen."


»𝐍𝐨𝐭 𝐀 𝐆𝐢𝐫𝐥« ˢᵒᵖᵉWo Geschichten leben. Entdecke jetzt