Kapitel 07

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Am Abend saß Yoongi mit seiner Familie am Esstisch und genoss das berühmte Kimchi seiner Tante, wobei von genießen nicht die Rede war. Er stocherte hauptsächlich in seinem Essen herum, schob es auf seinem Teller umher und starrte es an, als erwarte er von dem Essen, dass es seine Probleme lösen könnte.

Der Gedanke daran, sich in der Umkleidekabine vor den anderen Schülern umzuziehen, ließ sein Herz schneller schlagen und seine Hände zittern. Was, wenn sie seinen Körper sahen? Was, wenn sie bemerkten, dass er nicht so war wie sie? Er konnte die hämischen Kommentare und das höhnische Lachen bereits hören.

Jimin bemerkte, wie Yoongi immer stiller wurde und kaum noch einen Bissen aß, und sagte leise, ohne das Gespräch seiner Eltern über den nervigen neuen Hund der Nachbarn zu unterbrechen: "Alles okay, Yoongi?" Yoongi zuckte zusammen und hob den Kopf, als ob er soeben aus einem Albtraum erwacht war. "Was? Ja, mir geht's gut", murmelte er und zwang sich zu einem schwachen Lächeln, das niemanden überzeugte.

Seine Tante, die am anderen Ende des Tisches saß, runzelte die Stirn. "Yoongi, du musst essen. Du hast heute kaum etwas gegessen. Ist es wegen deiner Eltern?"

Yoongi senkte den Blick und kämpfte gegen die Tränen an, die in seinen Augen brannten. Es war nicht nur der Verlust seiner Eltern, der ihn quälte, sondern die Angst vor der Schule, vor dem Sportunterricht und vor der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Doch wie konnte er das seiner Tante erklären, ohne dass sie ihn verurteilte?

"Ich... ich muss kurz raus", sagte Yoongi plötzlich und stand hastig auf. Bevor jemand etwas sagen konnte, rannte er aus dem Zimmer; die Tränen flossen jetzt ungehindert über seine Wangen.

Er stürmte in sein und Jimins Zimmer und schlug die Tür lauter als geplant hinter sich zu. Seine Beine fühlten sich schwach an, und er ließ sich schwer auf sein Bett fallen. Er vergrub sein Gesicht in seinem Kissen und weinte lautlos. Die Angst und Verzweiflung, die er den ganzen Tag über zurückgehalten hatte, brachen nun über ihn herein wie eine Flutwelle.

Yoongis Finger klammerten sich in den Stoff von Kumamon, während seine Tränen den hellgrauen Bezug seines Kissens dunkelgrau färbten. Er konnte kaum atmen, der Binder schien ihm jegliche Luftzufuhr abzukapseln. Er wusste, dass er ihn ausziehen musste, aber der Gedanke daran, seine Brüste zu sehen, löste eine Welle von Panik in ihm aus. Es war eine Qual, in diesem Körper gefangen zu sein, der sich so falsch und fremd anfühlte.

Er setzte sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Mit zitternden Händen griff er nach dem Saum seines Binders und zog ihn vorsichtig über seinen Kopf. Das Gefühl der Erleichterung, als der Druck nachließ, wurde sofort von einem tiefen Gefühl der Scham und des Ekels verdrängt. Yoongi konnte nicht anders, als auf seine Brust zu starren, die nun unbedeckt vor ihm lag. Die Tränen flossen erneut sein Gesicht hinab, heiß und unaufhaltsam.

Er schluchzte laut und krümmte sich zusammen, seine Arme schützend um seinen Oberkörper geschlungen. Die Wände des eigentlich so großen Zimmers schienen näherzukommen, ihn zu erdrücken. In seinem Kopf hallten die grausamen Worte seiner ehemaligen Mitschüler wider, die ihn verspotten und verhöhnen würden, wenn sie ihn so sehen könnten. Er fühlte sich klein, schwach und gebrochen.

Plötzlich hörte Yoongi Schritte vor der Tür, und bevor er reagieren konnte, öffnete sich die Tür einen Spalt. Seine Tante Soojin trat ein, ihre Stirn besorgt gerunzelt. "Yoongi? Was ist los?", fragte sie sanft, ihre Stirn in Falten gelegt.

Yoongi erstarrte. Er fühlte sich wie ein Reh im Scheinwerferlicht, sein Atem stockte. Schnell griff er nach einem Pullover, der auf einem Stuhl lag, und zog ihn hastig über, um seinen Oberkörper zu bedecken. Die Tränen hörten jedoch nicht auf zu fließen, und er wusste, dass es zu spät war, um diese noch zu verstecken.

Soojin trat näher und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante neben ihm. Ihre Augen musterten ihn sanft und mitfühlend. "Es tut mir leid, dass ich so hereingeplatzt bin. Ich wollte nur sicherstellen, dass es dir gut geht."

Yoongi konnte ihren Blick nicht ertragen. Er fühlte sich so entblößt, so verletzt und schutzlos. Er drehte sich weg und zog die Knie an die Brust, seine Arme fest um sich geschlungen. "Es ist... alles okay", murmelte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Soojin legte eine Hand auf seine Schulter, eine warme, beruhigende Geste. "Yoongi, du bist nicht alleine. Wir sind hier, um dich zu unterstützen. Du kannst mit uns reden, wenn du bereit bist." Yoongi nickte schwach, aber die Scham und der Schmerz ließen ihn stumm bleiben. Er wollte nicht, dass seine Tante ihn so sah, dass irgendjemand ihn so sah – so schwach und verletzlich. In seinem Kopf kämpften tausend Gedanken gegeneinander, doch keiner fand den Weg über seine Lippen.

"Es ist in Ordnung zu weinen", fuhr Soojin leise fort. "Es ist in Ordnung, sich schlecht zu fühlen. Aber du musst wissen, dass wir dich lieben, egal was passiert." Yoongi konnte das Mitgefühl in ihrer Stimme hören, aber es fühlte sich so fern an. Wie konnte sie verstehen, was in ihm vorging? Wie konnte sie die Qualen nachempfinden, die er durchmachte?

Soojin seufzte leise und stand auf. "Ich lasse dich jetzt alleine. Aber wenn du reden willst oder irgendetwas brauchst, dann sag es bitte, ja?" Yoongi nickte erneut, unfähig, Worte zu finden. Soojin verließ das Zimmer leise und schloss die Tür hinter sich.

Als die Tür ins Schloss fiel, fühlte sich Yoongi noch einsamer und verletzlicher. Er kauerte sich wieder auf dem Bett zusammen, seine Gedanken ein chaotisches Durcheinander aus Schmerz, Scham und Verzweiflung. Aber vielleicht hatte seine Tante recht – vielleicht würde es irgendwann besser werden. Doch in diesem Moment fühlte sich diese Hoffnung unerreichbar weit entfernt an.

»𝐍𝐨𝐭 𝐀 𝐆𝐢𝐫𝐥« ˢᵒᵖᵉWo Geschichten leben. Entdecke jetzt