Kapitel 04

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"Tschüss, Eomma", schallte Jimins Stimme durch die kleine Wohnung und ließ Yoongi aus seinem Halbschlaf hochschrecken. "Ich gehe jetzt zu Tae und Hobi!"

"Jimin, warte", rief ihm die weibliche Stimme hinterher und das Klacken von Absätzen ertönte vor dem Zimmer, das Yoongi sich mit Jimin teilen musste. "Nimm doch bitte deine Cou- deinen Cousin mit, ja? Es würde ihm guttun, unter Menschen zu kommen, denkst du nicht?"

Yoongi schauderte bei den Worten seiner Tante und verkroch sich tiefer unter der Bettdecke, seine Finger krallten sich in das Kumamonkuscheltier, das er niemals zugeben würde zu besitzen. Es half ihm an schlechten Tagen wie diesem. Es half ihm, wenn er fürchtete, niemals als vollwertiger Mann angesehen zu werden. Es half ihm, wenn er Angst hatte, nie eine Beziehung zu haben. Es half ihm, wenn er wieder an seine letzten Monate in Daegu dachte.

"Bist du wach, Yoon?", vernahm Yoongi nun die sanfte Stimme von Jimin an seinem Ohr. Jimin war immer äußerst vorsichtig, wenn es darum ging, Yoongi zu wecken. Früher einmal hatte Yoongi mit einem Schuh nach ihm geworfen, nachdem Jimin auf ihn gesprungen war.

Yoongi grummelte nur als Antwort und seufzte leise. Er wollte sich am liebsten unter der Bettdecke verkriechen und nie wieder aufstehen. Doch ihm war klar, dass er hier nicht so sein konnte wie bei seinen Eltern. "Was willst du?", murmelte Yoongi leise und biss sich auf die Lippe. Seine Stimme klang viel zu hoch und feminin.

Jimin schien sich daran nicht zu stören, sondern schien einfach glücklich darüber zu sein, mit keinem Schuh abgeworfen zu werden. "Eomma möchte, dass du mit zu meinen Freunden kommst ...", erklärte er.

"Hmm 'kay", brummte Yoongi zur Antwort und schlug die Bettdecke zur Seite, wobei Kumamon aus dem Bett fiel. Panisch griff Yoongi danach und versteckte das Kuscheltier unter seinem Kopfkissen, aus Angst, dass Jimin über ihn lachen würde wie so viele seiner ehemaligen Freunde, als sie Kumamon in Yoongis Schultasche entdeckt hatten. Doch bevor Yoongi das Kuscheltier versteckt hatte, ergriff Jimin seine Hand und zog Kumamon zu sich. Ein schmales Lächeln erschien auf den Lippen des Jungen, bevor Jimin Yoongi sein Kuscheltier zurückgab.

"Ich mag ihn", grinste Jimin mit einem Nicken auf Yoongis Hände, die Kumamon umklammerten. Eine verwirrte Falte erschien auf Yoongis Stirn und Jimin konnte die Panik in den Augen des anderen Jungen erkennen. Er kam nicht umhin, sich zu fragen, was Yoongi erlebt haben musste, um solche Angst vor seiner Reaktion zu haben.

Jimin kletterte also die Leiter des Etagenbettes hinauf und nahm ein weißes Plüschschaf in die Hand. Er setzte sich vor Yoongi und legte das Schaf in seinen Schoß. "Es muss dir nicht unangenehm sein", begann er mit einem Lächeln, "ich habe auch Kuscheltiere. Viel zu viele laut meiner Mutter. Das ist Mochi, mein Schaf. Weißt du, woher der Name kommt?" Yoongi schüttelte den Kopf und sah Jimin neugierig an. Sein Mund war leicht geöffnet, seine Augen groß vor Neugier. "Meine Mutter hat es mir im Urlaub in Japan gekauft. Wir haben dort Mochis gegessen und der Großteil meines Mochis ist auf dem Schaf gelandet."

Jimin schaute auf, um Yoongis Reaktion zu erfassen. Er hoffte, ein Lächeln zu sehen, vielleicht sogar ein kleines Lachen, das die Schwere aus den Augen seines Cousins vertreiben würde. Doch Yoongi blieb still, sein Blick auf das Schaf gerichtet, als ob er darin eine Art Trost suchte.

"Du musst dir keine Sorgen machen, Yoongi. Bei uns kannst du einfach du selbst sein", fügte Jimin hinzu und legte eine Hand auf Yoongis. "Tae und Hobi sind genauso wie ich, wir haben keine Vorurteile. Wir werden dich lieben, so wie du bist."

Aber die Erinnerungen an die grausamen Taten seiner sogenannten Freunde in Daegu ließen Yoongi nicht los. Wie oft hatten sie ihn verspottet, ihn geschubst und ausgelacht, nur weil er anders war?

Er erinnerte sich daran, wie sie ihn auf dem Schulhof verhöhnt hatten. "Schaut mal, das ist Yoonji, die jetzt Yoongi sein will! Was für ein Witz!" Die Worte hatten sich wie Gift in sein Herz gegraben, und die Blicke der anderen Schüler hatten ihn förmlich durchbohrt.

Ein anderes Mal hatten sie ihn nach der Schule aufgelauert und ihn gezwungen, einen Rock zu tragen, den sie ihm ins Gesicht gedrückt hatten. "Du bist doch ein Mädchen, warum trägst du dann nicht einen Rock, wie es sich für ein Mädchen gehört?" hatten sie gelacht, während sie ihn zwangen, im Rock durch die Straßen zu gehen, bis er schließlich leise weinend davonlief und sich in einer Gasse versteckte.

Yoongi schluckte schwer, als die Erinnerungen über ihn hereinbrachen. Er war sich nicht sicher, ob er in Gwangju jemals wirklich er selbst sein konnte, ohne Angst haben zu müssen, erneut verletzt zu werden. Doch der freundliche Blick und die warme Hand von Jimin auf seiner gaben ihm einen Funken Hoffnung, dass es vielleicht doch anders sein könnte.

"Okay, ich komme mit", sagte Yoongi schließlich, seine Stimme leise und zögernd. Jimin strahlte vor Freude und half ihm, sich fertig zu machen. "Du wirst sehen, es wird toll. Tae und Hobi werden dich lieben, da bin ich mir sicher!"

Yoongi konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken und stand dann endlich auf. Er musste sich definitiv noch umziehen, denn er konnte schlecht in Boxershorts und einem alten T-Shirt seines Vaters bei Jimins Freunden auftauchen.

Yoongi ließ sich schwer atmend auf die Bettkante sinken und betrachtete seinen Körper im Spiegel, während Jimin die Zimmertür hinter sich schloss. Die Erinnerungen an eine Zeit, als er nicht so dünn war, als seine Formen weicher und runder waren, drängten sich auf. Damals hatte er gedacht, dass Abnehmen und ein dürrer Körper ihm helfen würden, sich besser zu fühlen. Er hatte gehungert, die Mahlzeiten ausgelassen, bis sein Magen vor Schmerzen knurrte und sein Kopf von Schwindelgefühlen erfüllt war. Aber das Gewichtsverlust hatte sein Unwohlsein nicht verändert, es hatte nur die Qualen des Hungers hinzugefügt.

Damals wusste er noch nicht, wer er wirklich war. Transgender? Dieses Wort kannte er nicht. Er wusste nur, dass er sich in seinem eigenen Körper gefangen fühlte, dass jeder Blick in den Spiegel eine Qual war. Die Veränderungen, die sein Körper durchlief, waren nicht die Veränderungen, die er sich gewünscht hatte. Die Geschlechtsidentität war ein fremdes Konzept für ihn, ein Bereich, den er in der konservativen Stadt Daegu nicht einmal zu ergründen gewagt hatte.

Yoongi schüttelte den Kopf, als er versuchte, diese Gedanken zu vertreiben. Jetzt war er hier, in Gwangju, umgeben von Menschen, die ihn vielleicht akzeptieren würden. Jimin hatte ihm Hoffnung gegeben, aber die Vergangenheit ließ ihn nicht los. Die Narben, sowohl physisch als auch emotional, waren tief.

Er stand auf und ging zum Kleiderschrank, wo er eine schwarze Jeans und ein einfaches T-Shirt herauszog. Seine Finger zitterten leicht, als er sich anzog. Das T-Shirt war zu groß, ein Überbleibsel aus der Garderobe seines Vaters, aber es verdeckte zumindest seine schmale Figur. Die Jeans saß locker an seinen Hüften, und er konnte sich nicht helfen, einen kurzen Blick auf seinen schmalen Bauch zu werfen. Er seufzte. Es war schwer, sich in seiner Haut wohlzufühlen, auch wenn er jetzt der Mensch war, der er immer hatte sein wollen.

Kumamon lag immer noch unter dem Kopfkissen, und Yoongi nahm das Kuscheltier und drückte es kurz an sich. Es war dumm, aber es beruhigte ihn irgendwie. Es erinnerte ihn an die wenigen glücklichen Momente seiner Kindheit, bevor alles kompliziert wurde.

Als er fertig war, trat er vor den Spiegel und betrachtete sein Spiegelbild. Sein Haar war kurz geschnitten, und er versuchte, sich vorzustellen, wie er aussehen würde, wenn er endlich die Veränderungen hinter sich gebracht hätte, die ihm halfen, sich so zu fühlen, wie er wirklich war. Es war ein Traum, der noch weit entfernt schien, aber vielleicht, vielleicht würde er eines Tages wahr werden.

Er atmete tief durch und trat dann in den Flur, wo Jimin ihm mit einem breiten Lächeln entgegenblickte. "Bereit?", fragte er sanft. Yoongi nickte und versuchte, das Lächeln zu erwidern, obwohl sein Herz schwer war und sein Geist von Zweifeln geplagt wurde.

"Gut", sagte Jimin und klopfte Yoongi auf den Rücken. "Lass uns gehen. Tae und Hobi können es kaum erwarten, dich kennenzulernen."

Yoongi schluckte seine Nervosität hinunter und folgte Jimin aus der Wohnung. Vielleicht würde dieser Tag anders sein als all die anderen, a die er sich so schmerzhaft erinnerte. Vielleicht würde er endlich einen Ort finden, an dem er sich selbst sein konnte, ohne Angst vor Verurteilung und Spott. Vielleicht, nur vielleicht, könnte Gwangju dieser Ort sein, an dem er endlich Frieden finden konnte.

»𝐍𝐨𝐭 𝐀 𝐆𝐢𝐫𝐥« ˢᵒᵖᵉWo Geschichten leben. Entdecke jetzt