Kapitel 06

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Um Punkt 06:00 Uhr wurde Yoongi von Jimins Wecker aus seinem Minutenschlaf gerissen. Es war ein nerviger Klingelton, genau der gleiche, den seine Eltern immer genutzt hatten, weswegen Yoongi im Nachbarzimmer jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit wie seine Eltern aufgewacht war. Der vertraute Klang ließ ihn zusammenzucken und für einen Moment fühlte er sich, als wäre er zurück in Daegu, in seinem alten Leben gefangen.

Yoongi setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sein Magen war ein Knoten aus Anspannung, und ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Brust aus. Heute war sein erster Schultag an einer neuen Schule, und die Angst davor, was ihn erwarten würde, ließ ihn kaum atmen.

Jimin, wie immer nach Yoongis Meinung am Morgen viel zu energiegeladen, sprang förmlich aus dem Bett und begann, sich anzuziehen. "Guten Morgen, Yoongi!", sagte er fröhlich. Im Gegensatz zu Yoongi war er ein Morgenmensch und war Morgen gut gelaunt, Hauptsache er bekam genug Schlaf. "Bist du schon aufgeregt? Ich verspreche, es wird nicht so schlimm, wie du denkst. Tae und Hobi sind auch dort, und ich werde dir alles zeigen."

Yoongi nickte nur stumm und stand langsam auf. Er zog seine Schuluniform an, ein weißes Hemd und eine graue Hose, die ihm immer noch ungewohnt vorkamen. Jedes Mal, wenn er sich im Spiegel betrachtete, kämpfte er mit seinem Spiegelbild. Er sah immer noch Spuren von dem Mädchen, das er einmal war, und es ließ ihn unwohl und unsicher fühlen. Zum Beispiel musste er sich jeden Tag in seinen Binder quetschen, der seinen - wenn auch kleinen - Brustansatz versteckte. Seine Hüften waren seiner Meinung nach zu breit, aber dank der Hormonblocker, die er seit etwa zwei Jahren nahm, waren diese nicht so breit, wie es in seinem Alter bei Mädchen üblich war.

Zum Frühstück mit seiner Tante und Jimin - sein Onkel war bereits auf der Arbeit - setzte er sich a den Tisch, doch der Anblick von Essen ließ seinen Magen sich noch mehr zusammenziehen. Seine Tante hatte ihm einen Teller mit Reis, Kimchi und ein paar Beilagen vorbereitet, aber Yoongi konnte keinen Bissen herunterbringen. Er stocherte in seinem Essen herum, während Jimin aß und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

"Du wirst sehen, die Lehrer sind in Ordnung, und die meisten Schüler sind echt nett. Klar, gibt es so ein paar Arschlö- 'tschuldigung Eomma, Idioten, die anderen das Leben schwer machen, aber wo gibt's die nicht?", nuschelte Jimin mit vollem Mund. "Ich denke, du wirst dich schnell einleben. Und wenn jemand dir Probleme macht, sag es mir einfach. Tae, Hobi und ich sind immer für dich da."

Yoongi nickte erneut, aber die Worte erreichten ihn kaum. In seinem Kopf spielten sich Szenarien ab, wie er in der Schule ausgelacht oder gemobbt wurde. Die Erinnerungen an Daegu waren noch zu frisch, die Wunden noch zu tief. Er fühlte sich, als würde er ins kalte Wasser geworfen, ohne zu wissen, ob er schwimmen könnte.

Auf dem Weg zur Schule war Jimin ein Wirbelwind der guten Laune, während Yoongi immer stiller wurde. Seine Hände und Beine zitterten immer mehr, je näher sie sich der Schule näherten, und er konnte den Kloß in seinem Hals nicht loswerden. Jedes Mal, wenn sie einem anderen Schüler begegneten, fühlte er die Blicke auf sich ruhen und versuchte, sich so unsichtbar wie möglich zu machen.

Als sie das Schulgebäude betraten, schien es Yoongi, als würden alle Augen auf ihn gerichtet sein. Die Gänge waren voller Schüler, die sich unterhielten, lachten und in ihre Klassenräume strömten. Jimin führte ihn durch das Labyrinth aus Korridoren und Türen, bis sie schließlich an seinem Klassenzimmer ankamen.

"Das ist dein Klassenzimmer. Ich muss jetzt in meinen eigenen Unterricht, aber ich komme in der Pause vorbei, okay?" sagte Jimin ermutigend.

Yoongi nickte schwach, als Jimin ihn mit einem letzten aufmunternden Lächeln zurückließ. Er atmete tief durch und trat in das Klassenzimmer. Die Gespräche verstummten kurz, als die anderen Schüler ihn bemerkten. Yoongi fühlte, wie seine Wangen heiß wurden, und er senkte den Blick, während er sich einen Platz in der hintersten Ecke des Raumes suchte.

»𝐍𝐨𝐭 𝐀 𝐆𝐢𝐫𝐥« ˢᵒᵖᵉWo Geschichten leben. Entdecke jetzt