Kapitel 02

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Yoongi saß an dem Esstisch in der Küche der Wohnung seiner Familie. Sein Cousin Jimin war momentan im Tanzstudio, und seine Tante Soojin war einkaufen, wie Hyunwoo ihm gesagt hatte. Dieser saß nun gegenüber von Yoongi, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Trotzdem fühlte sich die Situation wie ein Kreuzverhör an, und Yoongi krallte seine Fingernägel in den Stoff seiner Jeans.

"Ich wusste gar nicht, dass mein Bruder zwei Kinder hat", merkte Hyunwoo an und strich sich durch seine kurzen, dunklen Haare, die am Ansatz schon grau wurden. "Du siehst deiner Schwester Yoonji echt ähnlich."

Bei der Erwähnung des Namens, den Yoongi noch nie gemocht hatte, zuckte der Sechzehnjährige zusammen und richtete seinen Blick auf seine Hände. Er biss sich auf die Unterlippe, bis er den Geschmack von Blut auf seiner Zunge schmeckte.

"I-ich habe keine Schwester", sagte Yoongi leise und räusperte sich kurz, als er merkte, wie seine Stimme versagte.

"Nicht? Ich hätte schwören können, dass mein Bruder eine Tochter hatte", lachte Hyunwoo und fasste sich an den Kopf. "Vermutlich lässt mein Gedächtnis langsam einfach nach."

Yoongi brachte nicht einmal ein schwaches Schmunzeln zustande. Seine Mundwinkel verharrten in einer Linie, während seine Augen unsicher zwischen seinem Onkel und seinen Händen hin und her huschten.

"Du bist fünfzehn, oder?", fragte Hyunwoo weiter, woraufhin Yoongi ihn nur mit einem leisen "Sechzehn" verbesserte Yoongi ihn.

"Mann, Mann, wie die Zeit vergeht...", seufzte Hyunwoo und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

"W-warum wart i-ihr nicht bei der Beerdigung?", wollte Yoongi unsicher wissen. Seine dunklen Augen musterten seinen Onkel kurz, bevor er wieder hinab auf seinen Schoß blickte. Er hasste seine Stimme, die viel zu hoch klang, wenn er nervös war.

"Ich war auf einer Geschäftsreise und Jimins Schule hat ihn nicht beurlaubt. Soojin wollte aber auch nicht alleine fahren... es tut mir wirklich leid, dass wir nicht da waren", erklärte Hyunwoo mit einem traurigen Lächeln und drehte gedankenverloren an seinem Ring.

Yoongi dachte einige Zeit lang nach. Als er gerade den Mut für eine weitere Frage gefunden hatte, hörte er, wie ein Schlüssel in einem Schloss umgedreht wurde und sich eine Tür öffnete. Anhand der jugendlichen Stimmen vermutete Yoongi, dass es sich um Jimin und vielleicht einen Freund von ihm handelte.

"Ist meine Cousine schon da?", rief Jimin, der wohl Yoongis Rucksack im Flur entdeckt hatte, aufgeregt und kam im nächsten Moment auf Socken in die Küche gerutscht. "Huh? Wer bist du denn?" Jimin kniff verwirrt seine Augen zusammen und sah dann zu seinem Vater.

"Das ist dein Cousin, Yoongi", erklärte dieser und nickte zu Yoongi, der alles versuchte, um so selbstsicher wie möglich auszusehen.

"C-cousin? Yoongi? Ich habe keinen Cousin. Ich habe eine Cousine. Ich war doch vor zwei Jahren noch da und habe mich mit Yoonji unterhalten." Jimin sah verwundert zwischen seinem Vater und Yoongi hin und her.

"I-ich...", stammelte Yoongi unbeholfen. All sein Selbstvertrauen war der Unsicherheit gewichen, die er so gut hatte versteckt. Seine Wangen waren leicht gerötet, was jedes Mal passierte, wenn er in eine Situation geriet, die ihm Panik bereitete.

"Warte- Wer bist du wirklich?", fragte Hyunwoo nun und sprang auf, wobei sein Stuhl mit einem Krachen umfiel und Yoongi vor Schreck zusammenzuckte.

"I-ich bin Y-yoongi." Etwas leiser fügte Yoongi hinzu: "Ich bin transsexuell."

"Trans... transsexuell?", wiederholte Hyunwoo langsam. Auf seiner Stirn war eine Falte erschienen, als er überlegte, was in aller Welt Yoongi meinte.

Yoongi nickte kaum merklich und schaute zu Boden. Sein Gesicht war knallrot geworden und er knetete nervös seine zitternden Hände. Einerseits hatte er nicht gewollt, dass seine Familie es so schnell erfuhr, aber andererseits wären nur zahlreiche Fragen aufgekommen, wenn er nichts gesagt hätte.

"Ich verstehe nicht...", begann Hyunwoo, doch Yoongi hob beschwichtigend eine Hand.

"Es ist okay, wenn du es nicht verstehst", murmelte er leise, die Unsicherheit in seiner Stimme deutlich hörbar. "Es ist nur... ich musste es sagen."

Jimins Blick wanderte zwischen seinem Vater und seinem Cousin hin und her, während er offensichtlich versuchte, die Situation zu begreifen. Seine Augen weiteten sich, als ihm ein Licht aufzugehen schien.

"Du... du meinst... du bist... du möchtest ein Junge sein?", fragte Jimin zögernd, seine Worte sorgfältig abwägend, als ob er sichergehen wollte, dass er richtig verstand.

"Ich war schon immer ein Junge... aber ich wurde im Körper von einem Mädchen geboren... oh Mann, das klingt so doof, es tut mir leid. Vergesst es einfach." Yoongi ratterte die Worte schnell herunter und sprang dann auf, um schnellstmöglich zu verschwinden. Wohin, wusste er nicht, aber er konnte die unangenehme Stille nicht ertragen.

Weit kam Yoongi jedoch nicht, da Jimin ihn am Arm festhielt. "Warte... ich verstehe dich", sagte er, woraufhin sich ein Lächeln auf sein Gesicht schlich.

"Ich verstehe es immer noch nicht. Was heißt das? Yoongi ist doch ein Junge?" Auf Hyunwoos Stirn hatten sich noch mehr Falten gebildet, während er verwirrt zwischen Jimin und Yoongi hin- und hersah. "Yoongi... du bist also ein Junge, aber... du wurdest als Mädchen geboren?"

Yoongi nickte langsam, sein Herz pochte so laut in seinen Ohren, dass er dachte, die anderen könnten es hören. "Ja... genau. Ich habe mich schon immer wie ein Junge gefühlt, aber mein Körper... nun ja, er entspricht nicht meinem inneren Selbst."

Die Worte klangen so einfach, aber die Bedeutung dahinter war komplex und schwer zu erfassen. Yoongi fühlte sich, als ob er auf einem dünnen Seil balancierte, und ein falscher Schritt könnte ihn in einen Abgrund aus Ablehnung und Missverständnissen stürzen.

Jimin sah Yoongi mit einem Ausdruck der Verständnis an. "Also... du bist nicht wirklich meine Cousine Yoonji, sondern... mein Cousin Yoongi?"

Yoongi lächelte schwach, dankbar für Jimins Bemühungen, ihn zu verstehen. "Ja, genau. Ich bin immer noch ich, nur... anders, denke ich."

Hyunwoo seufzte und lehnte sich schwer in seinen Stuhl zurück. "Das ist viel... Ich meine, es ist nicht einfach, das zu verstehen, vor allem für jemanden in meinem Alter. Aber... ich möchte verstehen. Ich möchte für dich da sein, Yoongi, egal wer du bist oder was du fühlst."

Und in diesem Moment fühlte er sich ein kleines bisschen weniger allein in der Welt.

»𝐍𝐨𝐭 𝐀 𝐆𝐢𝐫𝐥« ˢᵒᵖᵉWo Geschichten leben. Entdecke jetzt