Kapitel 15

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𝗖𝗮𝗺𝗲𝗿𝗼𝗻

Morgan ist betrunken.

So betrunken, dass sie gerade eng mit Sawyer tanzt. Sawyers Hände liegen weit unten auf Morgans unteren Rücken, er genießt es, wie sie ihre Hüften zur Musik wiegt und sich an ihn schmiegt. Er ist offensichtlich auch betrunken; seit Morgan ihre alten Freunde gesehen hat und wie sie ohne sie Spaß haben, haben sie und Sawyer schon mehrere Runden Becher gekippt. Zuerst haben sie noch leicht angefangen, doch sie sind ziemlich schnell zu Bier-Pong rübergewandert. Schließlich, nach fünf Runden - Morgan ist übrigens eine echt miese Bier-Pong Spielerin - endeten sie auf der Tanzfläche, wo sie sich inzwischen einen Becher teilen, den Sawyer jedes Mal auffüllen geht, sobald er leer ist.

Ich habe schon einmal versucht, sie zu überreden ein bisschen langsamer zu machen, doch sie hat bloß stumm den Kopf geschüttelt und die nächste Runde Bier-Pong angefangen.

Doch als Morgan jetzt den letzten Rest des Bechers leert und zu Sawyer aufschaut, überfällt mich der blanke Horror.

Ich sehe, wie Sawyer aufhört zu tanzen, ein unanständiges Funkeln tritt auf einmal in seine Augen, und ich weiß in diesem Moment ganz genau, was er als nächstes tun wird. Ohne auf irgendjemanden zu achten, stürze ich durch die Menge, immer mit dem Blick starr auf die beiden gerichtet, und muss mitansehen, wie sich Sawyers Gesicht langsam Morgans nähert.

Verdammt, nein!

»Das lässt du gefälligst sein.«

Überrascht fährt Morgan zu mir herum und grinst mich dann erfreut an. »Hey, Cam!«

Sawyer steht noch viel zu nah bei ihr, weswegen ich mich schleunigst zwischen die beiden stelle und ihm einen warnenden Blick zuwerfe.

»So empfindlich, Cap.« Mit einem breiten Grinsen klopft er mir auf die Schulter und entfernt sich von uns. Verblüfft hebe ich die Brauen. Offenbar ist er doch noch nicht so voll wie ich dachte. Zumindest bringt er noch sinnvolle Sätze heraus.

»Ich hole mir noch etwas zu trinken. Willst du auch noch etwas, Mor-Mor?« Er wackelt mit dem Becher, den sie sich vorher geteilt haben.

Morgan öffnet schon den Mund, doch ich komme ihr zuvor. »Sie nimmt nichts mehr.«

»Hey! Das kann ich ja wohl noch selbst entscheiden!«, protestiert sie und will Sawyer schon folgen, doch ich halte sie zurück.

»Du hattest genug für heute.«

»Du bist nicht mein Boss!«

»Du bist betrunken«, versuche ich es eben so.

»Ich bin nicht betrunken. Ich bin noch voll klar.«

Ich kneife die Augen zusammen und nähere mich ihrem Gesicht, um in der Dunkelheit zu erkennen, ob ihre Augen glasig sind. Wo sie es nun sagt, fällt mir auch auf, dass sie überhaupt nicht lallt. Aber es kann nicht sein, dass sie nicht betrunken ist, Morgan ist nicht gerade groß, selbst ein ausgewachsener Eishockeyspieler läge bei ihrem Tempo schon ausgenockt auf der nächstbesten Couch.

»Mir geht's gut«, sagt sie nun wieder und will sich mir entreißen, doch das starke Schwanken ihres Körpers verrät sie. Schnell fange ich sie auf und lege provisorisch meinen Arm um ihre Taille.

»Ach ja, so gut, hm?«

Morgan funkelt mich an. »Schön. Vielleicht schwanke ich ein wenig, aber betrunken bin ich trotzdem nicht«, bleibt sie stur. »Können Betrunkene dir denn die Quadratwurzel aus dreitausendvierhundertsechsundneunzig sagen oder dir erklären wie man den Satz des Pythagoras anwendet?«

Ich bin für einen Moment baff, als sie anfängt genau das zu machen. Ich hole sogar mein Handy raus, um zu schauen, ob es die richtige Antwort ist. Mein Chef hat zwar mal erwähnt, dass Morgan ein kleines Mathe-Genie ist, aber dass sie selbst in betrunkenen Zustand die Quadratwurzel aus irgendeiner Tausenderzahl ausrechnen kann - mit Nachkommastellen - ist selbst für mich zu krass.

»Ups!« Ich kann sie gerade noch auffangen, als sie mal wieder zur Seite kippt. »Na gut, vielleicht bin ich betrunken, aber eben nicht betrunken.«

Ich muss grinsen. Sie ist verdammt niedlich, wenn sie betrunken, aber eben doch nicht betrunken ist.

»Du bist die einzige Person, die ich kenne, die nicht betrunken ist, wenn sie betrunken ist«, sage ich zu ihr und ihr Gesicht erstrahlt.

»Sag ich doch!« Sie hickst und lehnt sich dann an mich.

Die Wärme, die ihr Körper ausstrahlt, als er sich an mich schmiegt, fühlt sich so gut an, dass ich für einen Moment die tanzende Menge um uns herum vergesse und es einfach genieße. Am liebsten würde ich dieses Gefühl irgendwo einsperren, damit ich es behalten kann, um einfach darauf zurückgreifen zu können, wenn ich mich mal wieder mit meinem Vater auseinandersetzen muss. Damit ich mich wieder so leicht fühlen kann, wie jetzt.

Doch das geht nicht. Und das wird mir klar, als ich Gallahgar etwas entfernt von uns sehe, wie er sich durch die Masse schiebt.

Morgan hat ein gebrochenes Herz. All ihre Freunde haben sie fallengelassen. Sie ist verletzt und betrunken, ich sollte ihren Zustand nicht ausnutzen, bloß weil eine Umarmung von ihr sich gut anfühlt. Unglaublich gut.

Genau das sage ich mir, als ich sie langsam von mir schiebe. Morgan hebt den Blick, und als sie nun zu mir hochsieht, schimmern in ihren großen braunen Augen dicke Tränen, die kurz davor sind über ihre Wangen zu laufen.

Bevor ich nachdenken kann, sind meine Finger schon unter ihrem Kinn und heben es an. »Was ist los?«

Scheiße. Habe ich ihr irgendwie weh getan? Hat sie Gallahgar eben bemerkt?

Morgans Unterlippe zittert. »Bitte kein Mitleid mehr.«

Ich blinzle verwirrt. »Was meinst du, Morgan?«

Sie senkt den Blick und schüttelt immer wieder den Kopf, ihre Hände krallen sich in den Stoff meines Pullis. »Ich hasse Mitleid. Sie sollen damit aufhören. Sie sollen aufhören.«

Ich verstehe überhaupt nichts mehr, doch Morgan scheint sich das gerade von der Seele reden zu müssen, also halte ich still und lasse sie sprechen.

»Ich bin nicht mehr das traurige kleine Mädchen von früher, okay? Das Mitleid macht Leute klein. Es raubt ihnen die Kraft wieder aufzustehen. Die Leute sehen dich an, als würdest du es sowieso nicht schaffen.« Morgan schluchzt, und ich ziehe sie wieder eng an mich und bette mein Kinn auf ihren Scheitel, während ich kleine Kreise in ihren Nacken zeichne.

Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll oder wie ich damit umgehen soll, dass Morgan so aufgelöst ist. Ich will, dass es ihr wieder besser geht, dass sie aufhört zu weinen. Aber ich habe auch nicht den blassesten Schimmer, von was sie da gerade redet, oder was das hier ausgelöst hat.

Morgan schiebt mich abrupt von sich und blickt mir wieder in die Augen. »Du schaust mich genauso an wie sie. Du tust es immer wieder.« Als ihr eine weitere Träne über die Wange rollt, will ich schon die Hand ausstrecken, um sie aufzufangen, doch ich stoppe mich noch rechtzeitig. Sie will gerade nicht von mir berührt werden, also werde ich sie nicht berühren. Meine Arme fallen von ihr ab und ich gebe ihr ihren gewünschten Freiraum.

»Wer sind sie, Morgan?«, frage ich vorsichtig. Ihr schmerzhafter Blick schießt zu mir, und ich wünschte, ich könnte sie wieder zurück in meine Arme ziehen.

»Bitte hab kein Mitleid mehr mit mir, Cameron«, haucht sie, und die Verletzlichkeit in ihrer Stimme bricht mir das Herz. Ich weiß nicht, was sie durchgemacht hat, dass sie es nicht aushält, wenn jemand Mitleid mit ihr hat, aber ich werde es herausfinden. Aber vor allem werde ich ihrer Bitte nachkommen. Aber nur unter einer Bedingung.

Meine Hände liegen um ihr Gesicht, bevor sie zurückweiche und sich mir wieder verschließen kann. »Wenn du willst, dass ich kein Mitleid mehr mit dir haben soll, dann lässt du dir gefälligst endlich von mir helfen. Ich will dir helfen, Morgan. Als Freund. Du verlierst nicht an Stärke, bloß weil du Scheiße eben nicht alleine durchmachen willst. Dafür ist die Hand da, die ich dir entgegen strecke. Nimm sie.«

Es ist für eine sehr lange Zeit still zwischen uns. Sie hat ihren Kopf gesenkt und starrt auf ihre Schuhe, als wäge sie ab, ob sie mich lieber auslachen oder zum Teufel jagen würde. Doch dann schaut sie endlich hoch, und das schüchterne Lächeln, das ihr tränennasses Gesicht durchbricht, lässt mich erleichtert aufatmen.

»Danke, Cam.« Dann kippt sie um.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 12 ⏰

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