Kapitel 80: Lucans und Carlottas Freundschaft

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• Lucan •

Aus ihren hellgrünen Augen starrt Carlotta zu mir, als wäre ich nicht echt. Ich erschrecke mich sehr, weil Carlotta offensichtlich einige Jahre älter geworden ist. Zuletzt habe ich sie mit circa Mitte 40 gesehen, jetzt müsste sie Anfang 60 sein. Das Alter, in dem Bürgerliche nur noch sehr selten leben und Adelige ihre letzten Jahre erleben.

Ob eines Tages mal die Altersspanne von Menschen ansteigt?

Ihre Augen weiten sich.

„Hallo ... Carlotta", sage ich in meiner tiefen und ruhigen Tonlage.

„Lucan?", fragt sie und bekommt allmählich einen lebendigen Ausdruck auf dem Gesicht.

Ich kann es nicht verhindern. Mir steigen einfach so die Tränen in die Augen, weil ich es bin, der diese Reaktion in ihr auslöst. Sie bekommt ein Lächeln auf den Lippen, es fallen ebenfalls dicke Tränen über ihre eingefallenen Wangen und dann springt sie auf. Das Alter sieht man ihr an, wenn auch noch nicht so sehr, wie die seltenen Menschen, die es sogar bis 80 oder 90 schaffen.

Sie stürmt auf mich zu und ich eile ihr entgegen, um sie in meine Arme zu schließen. Ich drücke ihren gebrechlichen Körper an mich, sie schmiegt sich aber auch sehr in meine Arme und an meine Statur. Im Hintergrund sehe ich, wie Vittorius uns gerührt dabei beobachtet und auch Maurice nicht anders kann, als freudig dabei zuzusehen.

„Soll ich uns einen Tee zubereiten lassen, Mutter?", fragt Maurice dann und bekommt ein schluchzendes „Ja, bitte, mein lieber Sohn" von seiner Mutter.

Dann löst Carlotta sich leicht und nimmt meine Wangen in ihre Hände. Als nächstes nimmt sie mein zusammengebundenes Haar und lässt es durch ihre leicht faltigen Hände gleiten. Und schon fühlt sie über meine Schultern und entlang der Haut meiner Unterarme.

„Du siehst noch immer so schön jung und frisch aus. Ich habe dich sehr vermisst, Lucan. Ich erwarte stets jeden Brief voller Sehnsucht", sagt sie und allein bei den Worten nicke ich mit neuen Tränen in den Augen.

Kurz darauf finden wir uns alle im Wohnbereich ein, der noch immer verdächtig leer und ruhig ist. Vittorius brennt diese Frage sicher auch schon unter den Nägeln, aber streng genommen geht es uns nichts an. Es ist nicht unsere Zeit und nicht unsere Stadt. Vittorius sagt immer, dass es schwer ist, die nächste Generation machen zu lassen.

Erst jetzt beginne ich zu verstehen, was er meint.

„Lucan?", fragt Carlotta und schaut von ihrer Früchtetee Mischung auf.

Ich nippe an meiner Tasse und schaue sie fragend an.

„Wie wär's, wollen wir wieder Schattengerechter spielen?", will Carlotta dann mit leuchtenden Augen wissen.

„Sekunde, Ihr wart das, Fürst Lucan?", hakt Maurice dann entgeistert nach und starrt mich mit offener Kinnlade an.

Die Geschichten und Gerüchte gibt es auch heute noch, auch wenn der Schattengerechte seit vielen Jahren nicht mehr aktiv ist. Bisher hat niemand es mit mir in Verbindung gebracht, außer eben die Leute, die davon wissen.

Vor allem, weil die Leute denken, der Schattengerechte sei am Alter gestorben. Und ich bin nun mal jung und lebendig.

„Ja. Meinst du, du kannst es für dich behalten?", frage ich dann schmunzelnd.

Maurice wird nun richtig bleich im Gesicht und braucht einen Moment. Zu den ganzen Geschichten kamen über die Jahre noch wesentlich mehr Legenden hinzu, in denen der Schattengerechte ganz spezielle Kräfte und Mächte besitzt. Ich sehe bis hier, dass Maurice sich fragt, ob ich mit meinem Schatten jemanden erdrosseln kann oder jemanden mit meinem Blick ersticken kann.

Prinz LucanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt