Kapitel 3

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In Gedanken versunken schaue ich aus dem Fenster. Wir sind auf dem Weg zu irgendeiner abgelegenen Hütte im Wald. Das Jugendamt hat vorhin angerufen und mein Vater hat erklärt, dass wir eine lange Zeit im Urlaub sind und sie haben es ihm abgenommen. Ich weiß nicht, was er erzählt hat, aber das Jugendamt ist mit unserer Situation zufrieden.

Nach wenigen Minuten sind wir angekommen und nachdem er mir die Erlaubnis gegeben hat, steige ich aus. Es ist schon später Nachmittag und die Sonne ist zur Hälfte am Horizont verschwunden. Wie gesagt sind wir in einem Wald und es ist wunderschön. Ich höre leises Wasser plätschern und überall wo ich nur hinschaue sehe ich große, grüne Bäume und gegenüber von dem Auto erstreckt sich ein großer, glitzernder See. Hier ist ein wundervoller Ort, hier könnte ich für immer bleiben.
Unsanft werde ich zurück in die Realität geschubst. Es geht weiter. Er fasst meinen Oberarm an und zerrt mich hinter ihm her, einen schmalen Pfad entlang. Hier sind viele exotische Pflanzen... Wielange ich hier bleibe? Ob ich Schnee sehen werde? Es ist bereits Mitte November, so unrealistisch ist das gar nicht.. Ach wäre das schön...

Kurze Zeit später stehen wir vor einer kleinen Hütte... oder was immer das sein soll. Erst jetzt kommt mir der Gedanke, warum er mich hierher bringt. Das vor uns ist so klein, es würde gerade mal eine Toilette und ein kleines Waschbecken rein passen ..

"Was machen wir hier?", frage ich vorsichtig.

"Na was schon, du wirst hier übernachten. Bevor das Jugendamt doch noch aufkreuzt. Eine Woche lang."

Er drückt mir Schlüssel in die eine und eine große Box in die andere Hand.

"Verreck nicht du missgeburt. Obwohl.. wenn ich es mir überlege... ist es mir egal. Ich habe nur keine Lust, den trauernden Vater spielen zu müssen."

Dann dreht er sich um und geht davon, lässt mich hier mitten im nirgendwo alleine.

Ich bin total überfordert. Er ist gegangen. Was soll das? Er hat mich noch nie alleine gelassen. Nur wegen dem Jugendamt? Hier? Ich verstehe es nicht..

Als erstes stelle ich die Box ab und öffne sie. In ihr befindet sich ein Brot, ein paar Decken und ein Pulli. Das muss für die Woche reichen.
Überfordert und am ende meiner Kräfte setze ich mich hin. Was soll ich jetzt machen? Es gibt kaum noch Licjt, bald ist es stockdunkel.

Schließlich entscheide ich mich dafür, diese Hütte zu öffnen. Was mich wohl erwartet?

Als ich die Tür quietschend öffne, schaue ich in einen leeren raum. Er ist kleiner als mein Zimmer, vielleicht so groß wie mein Bad. Es gibt kein Fenster, nur die Tür. Riechen tut es nicht besonders gut, nach alt und verfault. Ich breite in schnellem Tempo 2 Decken aus, stelle die Kiste hinein und nehme mir eine Scheibe Brot heraus. Die wenigen Minuten Tageslicht verbringe ich hier draußen.

Während ich die kleine Scheibe esse, beobachte ich weiter diesen wunderschönen Ort. Ich fühle mich frei. Frei von allen Problemen und Zwängen. Es fühlt sich schön an. Ich weiß nicht, warum er mich hierher gebracht hat. Aber ich weiß auch nicht warum er mich so behandelt und ich hinterfrage es nicht. Ich will es nicht wissen, also werde ich mich im Stillen bei ihm für diese Tage bedanken.
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Heute ist Mittwoch, der Tag, an dem das Jugendamt kommen sollte. An dem sich etwas hätte verändern können. Aber hätte es überhaupt etwas gebracht? Wären sie hinter unser Geheimnis gekommen? Hätte ich ihn verraten? Hätte ich ihn wirklich auffliegen lassen? Ich weiß es nicht. Aber... es wäre eine Chance gewesen.
Weiß Herr Becker wo ich bin? Weiß er, dass es mir gut geht? Besser als je zuvor? Er soll sich keine Sorgen machen. Aber wahrscheinlich bin ich ihm sowieso egal. Ich bin nur eine seiner 150 Schülerinnen, wieso sollte er ausgerechnet an mich denken?
Die Sonne ist bereits am Untergehen. Mit jedem Tag fange ich an, diesen Ort noch mehr zu lieben. Ich bin alleine, aber nicht einsam. Manchmal höre ich Vögel zwitschern obwohl es Winter ist. Dann rascheln Blätter, oder ich höre wieder das Wasser. Ich fühle mich zum ersten mal in meinem Leben glücklich. Ob das wirklich Glück ist, was ich empfinde weiß ich nicht. Aber es ist schön. Ich fühle etwas positives, das habe ich noch nie getan. Es fühlt sich unglaublich gut an.

Doch dann breiten sich wieder Sorgen in meinem Kopf aus. Wird er mich wieder abholen? Kann sich danach etwas ändern? Wir haben doch gerade so eine Art Pause, das kann doch bedeuten, dass er sich ändert. Und ich auch.

Ich habe nur noch wenig Brot. Das Brot war nicht größer als meine beiden Hände lang sind. Jeden Tag habe ich 3 Scheiben gegessen, ich hätte nachzählen sollen. Jetzt habe ich nur noch 7 Scheiben für 5 Tage. Morgen muss ich hier etwas essbares finden...

Gerade als ich schlafen gehen will, entdecke ich etwas Unglaubliches. Kann das sein???
Ich schaue nach oben. Strecke meine Hand aus und berühre es. Und noch einmal. Ich träume nicht. Es ist wahr. So lange habe ich davon geträumt, es zu erleben.

Es schneit.

Ich berühre ihn. Ich berühre Schneeflocken. Sie sind so schön kalt. Ich habe sie mit meinen 16 Jahren noch nie berührt und es ist schöner als ich es mir je erträumen konnte. Vor lauter Glück steigen mir Tränen in die Augen. Es schneit. Und ich bin dabei. Das ist so schön für meine Seele. Es heilt sie ein Stück weit.

Aber sobald ich eine Schneeflocke berühre, schmilzt sie. Sie geht kaputt. Ihre Einzigartigkeit zerstöre ich damit. Ich zerbreche sie. Ich zerstöre sie. Das darf ich nicht. Das steht mir nicht zu.
Mehr Tränen sammeln sich in meinen Augen. Aber es sind keine Freudentränen. Es sind Tränen, die meine Seele widerspiegeln. Es sind Tränen, die um Entschuldigung bitten.
Schnell verkrieche ich mich unter meinen Decken, verschließe vorher noch die Tür und falle in einen unruhigen Schlaf.

Ich träume von einer schneeweißen Landschaft. Mein Vater und meine Mutter sind mit mir dort, auf diesem weißen Feld. Es scheint unendlich lang zu sein und immer mehr Schneeflocken fallen vom Himmel.
Das merkwürdigste ist nicht, das meine Mutter da ist. Das Merkwürdigste ist, dass sie mir nicht fremd vorkommt. Ich habe keine Angst vor ihr. Und auch keine vor meinem Vater. Wir haben Spaß, wir sind als eine Familie unterwegs. Die Gesichter erkenne ich nicht. Dennoch fühlt es sich schön an, auch wenn es falsch ist.
~

Am nächsten Morgen traue ich meinen Augen nicht. Ich stehe mit offenem Mund vor der Tür und starre seit Minuten vor mich hin. Alles ist weiß. Die Bäume und ihre nackten Äste tragen weiße Mäntel, der Boden ist mit Schnee bedeckt. Ich ziehe mir den zweiten Pullover über, werfe mir noch eine Decke über und laufe durch den Schnee. Mein Atem hinterlässt weiße Wölkchen. Wieder laufen mir heiße Tränen über die Wangen. Es ist alles wie im Traum... seit 3 Tagen wurde ich nicht geschlagen. Nicht vergewaltigt. Nicht niedergemacht. Habe ich mich nicht einsam gefühlt. Habe ich gut geschlafen. Und mir wurde ein Traum erfüllt. Ich bin kurz davor, mich in den Schnee zu legen, doch dann wäre ich durchnässt und kalt. Vermutlich würde ich erfrieren. Ich darf nicht sterben, hat er mir gesagt. Ich darf es nicht.
Also laufe ich weiter und hinterlasse eine immer länger werdende Spur. Immer weiter mit einem Lächeln im Gesicht. Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase. Sie bringen den Schnee zum Glänzen, genau wie meine Augen.
Ich höre erst auf zu laufen, als ich vor dem See stehe. Er ist eingefroren, nichts bewegt sich. Alles ist still, alles glänzt, alles ist weiß.
Neben mir entdecke ich einen Busch mit roten Beeren. Stirnrunzelnd betrachte ich ihn. Beeren im Winter? Mir soll es nur recht sein, mein Magen knurrt. Ich pflücke ein paar und stecke sie in meine Taschen. Nachdem ich mich noch eine Weile ausgeruht und den Ausblick genossen habe, nehme ich mir noch eine handvoll Beeren und möchte mir gerade die erste in den Mund stecken, als ich zu Tode erschreckt werde.

"Die würde ich nicht essen", höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir.

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt