Kapitel 9

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Als ich mit dem Klingeln den Klassenraum betrete, versuche ich möglichst normal zu laufen. Gerade in dieser Woche sollte das niemand mitbekommen. Mit Schmerzen setze ich mich endlich auf meinen Stuhl in der letzten Reihe.

"So, guten Morgen. Heute steht auch ein bisschen was auf dem Programm. In den ersten beiden Stunden möchte ich die angekündigten Gespräche führen, danach machen wir ein paar Rollenspiele, bei denen jeder etwas zu tun hat und reden abschließend über seelische Gewalt. Klingt nach weniger Arbeit, als es tatsächlich ist also fangen wir gleich an. Während ich mit euch rede, Lest und füllt ihr bitte die Arbeitsblätter aus, die besprechen wir dann morgen. Benehmt euch, ich verlasse mich auf euch."

Unsere Klasse kann sich wirklich benehmen wenn sie will. Und gerade bei so einem ernsterem Thema kommt nur selten ein dummer Spruch.

"Wir gehen alphabetisch vor. Linus, kommst du gleich mit?"

Ich bin im Alphabet die neunte. Nur acht Kinder sind vor mir. Dann muss ich das größte Lächeln aufsetzen und ihm endlich zeigen, dass es mir gut geht, sonst werde ich von meinem Vater irgendwann wirklich noch zu Tode geprügelt. Ich darf mir absolut nichts anmerken lassen. Nicht dass es mir schlecht geht, nicht dass ich Verletzungen habe, nicht dass ich Angst habe, nichts. Absolut nichts. Vor Aufregung und Angst wird mir ganz schlecht und ich fange an zu zittern. Hoffentlich geht das gleich wieder weg...

Die Arbeitsblätter ignoriere ich. Ich bereite mich die ganze zeit auf dieses blöde Gespräch vor. Meine Mauern dürfen nur für diese Minuten nicht einstürzen. Danach sehe ich sogar David wieder. Aber nur, wenn ich Herr Becker zeige, dass es mir gut geht, sonst will er mit mir wahrscheinlich in der Pause reden. David wird mich aufmuntern. Es wird schon. Mit jedem Schüler redet er ungefähr 5 Minuten, das ist schaffbar.

Nervös knete ich meine Hände. Von diesen 5 Minuten hängt für mich so viel ab. Für andere ist es vielleicht ein Scherz oder einfach nur ein Gespräch mit dem Klassenlehrer, für mich hängt davon mein Leben ab. Ich darf es nicht vermasseln.

"Hope? Du bist dran."

Scheiße. Ich atme tief durch, dann stehe ich langsam auf und laufe so normal wie möglich zu Herr Becker. Vor der Klassenzimmertür schließe ich sie und setze mich auf den Stuhl, der Herr Becker gegenüber steht. Bis eben hatte ich einen starren Gesichtsausdruck, doch jetzt lege ich ein fröhliches, nicht übertriebenes Lächeln auf. Ich bin für ihn auch nur irgendeine Schülerin. Es ist alles okay und genau das werde ich ihm jetzt auch übermitteln.

"Hallo hope. Wie geht es dir?"

"Gut, danke."

"Du weißt, dass ich mir Sorgen um dich mache."

"Ja, mein Vater hat mir erzählt, dass sie nochmal angerufen haben. Aber mir geht es wirklich gut, es gibt keinen Grund, sich Sorgen machen zu müssen."

"Hat er dir denn auch erzählt, was ich ihm gesagt habe?"

Angestrengt durchforste ich mein Hirn. Was hat er gestern gesagt? Irgendwas mit dem Jugendamt...

"Nichts genaues, nur dass das Jugendamt mal vorbeischauen wird oder so etwas..."

"Ja, genau. Seit eineinhalb Jahren bin ich dein Klassenlehrer. Du bist mir von Anfang an aufgefallen, hope. Du bist sehr dünn und blass. Du hast oft Verletzungen die du versuchst zu verstecken. Du kannst dich nicht konzentrieren und bist oft mit deinen Gedanken abwesend. Heute kannst du auch nicht richtig laufen, auch wenn du es versuchst. So oft sehe ich dich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Und dein Lächeln sieht nicht ehrlich aus. Es siehst traurig aus und deine Augen sind leer. Ich bin ein Lehrer, der seinen Schülern helfen möchte und der möchte, dass es ihnen gut geht. Und dein Vater macht mir auch nicht den Eindruck, als würde er keiner Fliege etwas zu leide tun. Es tut mir leid, wenn ich dich damit überrumpelt habe. Aber ich glaube dir nicht, dass alles gut ist."

Wow. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet. Mein ach-so-tolles-Lächeln ist wie weggewischt. Ich darf nicht schwach werden.

"Das ist es aber. Sie müssen nicht so sehr auf mich achten. Mir geht es gut, ich lebe doch noch. Jeder macht schwere Zeiten durch oder nicht? Ich mache in meiner Freizeit viel Sport und da verletzt man sich auch mal."

"Zeigst du mir dann mal deinen Arm?"

Zögernd ziehe ich den Ärmel meines rechten Armes hoch bis zum Ellenbogen. Am Oberarm habe ich auch eine leichte Verbannung von letzter Nacht. Man sieht nur kleine, wenige Narben an der Stelle, die ich ihm offenbare.

"Und was hast du an deinem Bein gemacht?"

"Ich habe mich beim Sport verletzt."

"Was machst du denn für ein Sport?"

"Fußball." Fußball, genau. Ich. Ich weiß aber, dass man sich beim Fußballspielen auch am Oberschenkel verletzen kann, also warum nicht?

"Hope ich weiß dass du kein Fußball spielst. Im Sportunterricht hattest du eine 4- darin. Du machst vermutlich gar kein Sport, weil du sonst umkippen würdest. Das ist hier in Sport auch schon oft passiert. Ich möchte dir nur helfen, aber dafür musst du dich mir auch anvertrauen. Ich werde nicht locker lassen, das weißt du. Ich bin jederzeit für dich da wenn du reden willst. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, oder findest du nicht?"

"Es gibt aber nichts großes zu bereden. Wirklich nicht. Aber danke, das ist lieb. Danke."

"Okay, aber komm bitte zu mir wenn etwas ist. Bevor es zu spät ist."

Tränen verdrängen, Lächeln. Tränen verdrängen. Ich nicke nur.

"Okay, dann kannst du jetzt wieder reingehen. Mit den anderen Fragen verschone ich dich für heute. Kann ich noch irgendwas für dich tun?"

Soll ich ihn bitten, meinen Vater nicht mehr anzurufen? Wenn nicht, wird er ihn bestimmt nochmal anrufen. Und wenn ich ihn anrufe, lässt er es vielleicht oder er ruft doch an. Also kann es nur besser werden, oder?

"Ähm.. Ja... also vielleicht. Könnten sie vielleicht in Zukunft nicht mehr so oft bei uns anrufen?"

Kurz schaut er verwirrt, doch dann legt sich eine Art Entsetzen und Erkenntnis auf sein Gesicht.

"Ja, natürlich. Entschuldigung, wenn ich dir damit Probleme gemacht habe. Sagst du Lena bescheid? Sie ist die nächste."

Langsam stehe ich auf und gehe wieder rein. Die nächsten Minuten sitze ich alleine und einsamer als je zuvor auf meinem Platz. Er hätte mir helfen können. Er hätte es tun können. Er hat es sogar angeboten. Aber das kann ich nicht tun. Das geht doch nicht.. Ich würde meine Familie endgültig zerstören.

---

In der großen Pause treffe ich mich wie verabredet mit David. Ständig kommen mir dir Worte von Herr Becker wieder in den Sinn.

...Du bist mir von Anfang an aufgefallen, hope...

...sehr dünn und blass...

...Verletzungen die du versuchst zu verstecken...

... mit deinen Gedanken abwesend...

...So oft sehe ich dich mit schmerzverzerrtem Gesicht....

...dein Lächeln sieht nicht ehrlich aus... Es siehst traurig aus und deine Augen sind leer....

...ich glaube dir nicht, dass alles gut ist...

...Ich möchte dir nur helfen...

...Ich bin jederzeit für dich da...

...komm bitte zu mir... Bevor es zu spät ist....

Bevor es zu spät ist. Wird es irgendwann zu spät sein? Wird mein Vater wirklixh so weit gehen? Würde er mich wirklich umbringen?

"Hey hope", reißt mich Davids Stimme aus meinen Gedanken, "tut mir leid für die Verspätung, ich hab Grade noch kurz mit Ma... Äh herr Becker geredet."

"Mit Herr becker? Um was gings?"

"Ach, um nichts wichtiges. Er ist mein Vater."

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt