Kapitel 10

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...Er ist mein Vater."

Was!? Es wird ja immer besser! Herr Becker ist Davids Vater!? Na super...

"Alles okay? Hast du was gegen ihn? Kannst du mir ruhig sagen, fände ich nicht schlimm."

"Ähm... er... also... Na ja, ich weiß nicht."

"Na komm, dir liegt doch was auf der Seele. Ich bin niemand der etwas weitererzählt und ich weiß, wie sehr reden manchmal helfen kann. Auch wenn er mein Vater ist kannst du ruhig wie über jeden anderen Lehrer auch lästern", meint er lächelnd.

"Es ist nur so, er glaubt mir nicht, dass mit mir alles in Ordnung ist."

"Wie meinst du das?"

"Er denkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Dass es mir nicht gut geht."

"Hat er denn damit recht?"

Ich werde ihn nicht anlügen. Lügen machen alles kaputt.

"Keine Ahnung, jeder hat doch irgendwelche Probleme. Aber es ist alles okay. Ja, ich bin dünn und ja, ich bin blass. Ich habe auch oft Verletzungen und mein Vater... Er ist vielleicht nicht der Freundlichste, aber deshalb muss man doch nicht gleich vom schlimmsten ausgehen... oder?"

"Es kommt ja auch darauf an, wie du auf ihn wirkst. Ab und zu erzählt er von seinen Schülern und jetzt wo dus sagst, ist dein Name auch mal gefallen. Aber in 2 Wochen geht es bestimmt besser. Wenn du willst, kann ich ihn auch mal darauf ansprechen."

"Nein nein, danke... Na ja. Soll ich dir ein bisschen die Schule zeigen?"
~~

Ich sitze zu Hause vor meinem Fenster und schaue durch ein Loch im Holz nach draußen. Der Schnee ist fast geschmolzen, trotzdem spielen draußen kleine Kinder und werfen sich gegenseitig damit ab. Sie lachen und rennen und sind fröhlich. Hoffentlich geht es ihnen so gut, wie sie aussehen. Hoffentlich haben sie eine schöne Kindheit.
Als ein Frau, wahrscheinlich die Mutter, mit Keksen auf sie zu kommt, merke ich, wie hungrig ich bin.

Gestern morgen habe ich das letzte mal etwas gegessen und vorgestern habe ich auch weniger bekommen. Jetzt ist es schon fast abend und mein Bauch schmerzt nicht nur wegen den Verletzungen... Ich bekomme sowieso nicht genug an Nährstoffen, und jetzt habe ich sozusagen 36 Stunden dazu noch gefastet... unfreiwillig. Ich habe Hunger. Hoffentlich kann ich die Nacht wenigstens schlafen.... Mein Vater hat mich heute nicht beachtet, ich hoffe das ist ein gutes Zeichen...

Als die Sonne untergegangen ist, lege ich mich auf den harten Boden und versuche eine Position zu finden, in der ich nicht meine ganzen Knochen spüre. Alles tut so weh...
~~

Am nächsten morgen weckt er mich zu spät. Ich habe 20 Minuten, um in die Schule zu kommen, sonst bin ich zu spät. Und das hasse ich. Der Schulweg dauert, wenn ich renne, vielleicht 13 Minuten. Schnell mache ich mich fertig, darauf bedacht, keine Wunden aufzureißen. Schnell ziehe ich noch den großen Pulli über und renne aus dem Haus. Schon nach den ersten Metern wird mir schwindelig, ich dufte heute morgen wieder nichts essen. 48 Stunden. Ich kann nicht mehr so schnell laufen... sonst kippe ich wirklich noch um. Ich habe das Gefühl, jeden Moment kommt das nicht-vorhandene Essen wieder hoch und meine beine tun mir weh.

Zügig laufe ich weiter und komme außer Atem mit dem Klingeln in der Schule an.

Herr Becker erklärt, dass wir heute Rollenspiele machen werden und am Anfang wird er noch das Ergebnis der Umfrage sagen. Sofort schlägt mein Puls schneller. Hoffentlich ist nichts herausgekommen...

"Ich mache es kurz, an unserer gesamten Schule, also von der 5. bis zur 13. Klasse, das sind über 1.700 Schüler und Schülerinnen, wurde so gut wie jeder schonmal von den Eltern geschlagen. Meistens nur eine Backpfeife oder einen Klaps auf den Po, aber Schlag ist Schlag. Ungefähr 37 Schüler werden zu hause misshandelt und darüber wollte ich jetzt in der ersten Stunde reden. Zwei Schulklassen voller Schüler werden verprügelt, von den eigenen Eltern. Es sind nicht sehr viele von 1700 Schülern, aber immer noch genug. Und nur ein Viertel hat angegeben, dass es jemand weiß. Von diesem Viertel wollen sich auch nur die Hälfte helfen lassen, das heißt dass 4 Schülern wird geholfen. Kann sich jemand vorstellen, warum nur so wenige Hilfe zu lassen? Ja, max?"

"Wahrscheinlich weil sie auch angst davor haben, was passiert."

"Kann das noch jemand ausführlicher beschreiben? Hope? Versuchst du es mal?"

Na toll, war ja klar. Sachlich bleiben.

"Na ja, die Kinder haben vielleicht Angst davor, dass ihre Familie zerstört wird. Und das würde nur wegen ihnen passieren, weil sie den Mund aufmachen. Sie wissen auch nicht, wie es weitergeht oder ob es danach überhaupt besser wird oder ob es weitergeht. Niemand will von der Familie weg... Und wenn sie dann wieder nur Abstoßung finden, wäre es das auch nicht wert. Ich denke, die Kinder wollen auch keine Schwäche zeigen. Zu Hause sind sie immer die Schwachen, also wollen sie nicht noch schwächer sein als sie es sowieso schon sind."

Punkt setzen. Ich hasse es. Die restliche Stunde nimmt er mich zu meinem Glück nicht mehr dran, aber das hat ja auch gereicht. Ich weiß nicht, ob ich ihn mit meinen Antworten davon überzeuge, dass ich nichts damit zu tun habe. Ich zeige keine Emotionen aber ich weiß nicht, ob es sich so anhört als hätte ich eben Erfahrung damit...
-

In der zweiten Stunde kommen die Rollenspiele an die Reihe. Jeder zieht einen zettel, auf dem eine Nummer für die Gruppe und eine Person, die man anschließend spielen muss, steht. Ich ziehe Gruppe 4 und bin der große Bruder, bzw die große Schwester von demjenigen, der geschlagen wird. In jeder gruppe sind 4 Leute. Vater, mutter, kind und schwester/ bruder. Lena ist auch in Gruppe 4 und sie spielt die Mutter.

In meiner Gruppe sind noch Linus und Mark. Mark ist nicht sehr nett, eher so der Draufgänger und er ist der Vater. Linus ist dafür umso netter. So ein lieber Junge, der für alle da ist und keine Scheiße baut. Wir sollen uns als Aufgabe eine Situation überlegen, in der der Vater, die Mutter oder beide gerade einen "Ausraster" haben und später wird die Situation vor Herr Becker vorgespielt. Wenigstens nicht vor der ganzen klasse, aber das kommt wahrscheinlich später.

Wir einigen uns auf eine Szene, in der der Vater die Mutter einschüchtern weil er alkoholisiert ist znd dadurch aggressiv ist. Die Mutter wird zurück in eine Ecke gedrängt, und als er gerade ausholen will, lenkt ihn der kleine Bruder ab. Dadurch ist er auf ihn sauer und kommt auf ihn zu, aber bevor er zuschlagen kann, zieht die große Schwester ihn weg und stellt sich schützend vor ihn, wodurch sie geschlagen wird.

Schon beim Proben fange ich an zu zittern. Ich versuche mir einzureden, dass es nur eine Szene ist, nur Spaß. Aber das macht keinen Spaß. Das ist kein Spaß und das sollte auch nicht als spaß verwendet werden. Denn es gibt 37 Schüler an dieser Schule, die das jeden verdammten Tag erleben! Ist das etwa spaß für sie, jeden Tag mit Angst zu leben? Nein! Also warum machen wir das dann!?

Als Herr Becker zu uns kommt, bin ich mit meinen nerven schon wieder am ende. 5 mal haben wir es durchgespielt und es wird immer schlimmer, ich werde immer ängstiger. Mark schlägt nicht fest, aber ich vertraue ihm nicht und er berührt mich trotzdem. Es endet immer so, dass ich meine Arme schützend über mich halte und versuche, meine Angst zu verstecken, in der Hoffnung, dass niemand merkt, wie nah mir das geht.

"Dann zeigt mal her was ihr erarbeitet habt."

Erarbeitet. Das ist nicht erarbeitet. Das ist schlimmer. Wir denken uns eine Situation aus, in der jemand verprügelt wird, das ist echt nichts gutes. Nach einem abschätzigen Blick muss ich mich zusammen reißen. Herr Becker schaut zu, also ganz ruhig. Er darf nichts merken. Dir kann nichts passieren. Nur noch ein mal. Ein letztes mal.

Zitternd reiße ich Linus zurück und stelle mich vor ihn. Als Mark erneut ausholt und mich ohne Vorwarnung an die Wand drückt und mir keinen Freiraum lässt, fühle ich mich ernsthaft bedrängt. Ich senke meinen Blick und versuche mich zusammenzureißen und ziehe scharf sie Luft ein. Ich sehe ihn. Meinen Vater, wie er mir die Luft abschnürrt. Und wie er mich schlägt. Mir wird schwindelig, ich höre Mark schreien. Es ist nur theater. Doch für mich ist es mehr. Ich lasse mich die Wand herunterrutschen und halte schützend die Hände über mich. Ich spüre seine Hände auf meinen armen, wie er 'so tut' als würde er mich schlagen. Das geht nicht mehr.

Mach bitte dass es aufhört...

"Mark, es reicht. Hör auf, du sollst sie nicht wirklich schlagen, sie nicht berühren."

Herr Beckers Stimme holt mich ein Stück in die Wirklichkeit zurück. Meine Tränen verschließe ich und stehe schnell auf; zu schnell. Alles um mich herum dreht sich und ich knicke mit einem Bein weg, aber Lena ist da und stützt mich. Sie redet mit mir, aber es ist als wäre ich unter Wasser. Ich verstehe sie nicht. Und dann wird alles schwarz um mich herum und ich falle auf den Boden.

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt