Nach wenigen Schritten laufen mir die ersten Tränen über die Wange. Wie konnte mich nur wohl fühlen? Ich hätte vorher daran denken müssen, dass es wieder alles anfängt. Wie konnte ich nur denken, dass er sich ändert? Dass alles besser wird? Wie konnte ich nur all meine Sorgen vergessen? Hier ist es so schön, aber die Realität holt einen immer wieder ein. Immer. Wie konnte ich das nur vergessen?
Als ich am See angekommen bin, weine ich immer noch.Er hat gedroht, mich umzubringen. Er will mich töten. Warum macht er es nicht einfach? Dann ist er mich endlich los. Wieso lässt er mich nicht hier? Erfrieren oder verhungern werde ich. Und dann ist er mich los, ohne Blut an seinen Finger kleben zu haben.
Ich habe schreckliche Angst vor meinem eigenen Vater. Warum ist meine Mutter abgehauen? Habe ich ihr von Anfang an Kummer bereitet? Oder was ist passiert? Hätte sie nicht bleiben können? Wir hätten doch alles geschafft, solange wir zusammen gehalten hätten. Ich darf das nicht denken, aber sie hat mich im Stich gelassen. Wusste sie, dass mich ein Leben voller Hass und Gewalt erwarten wird? Oder dachte sie, er würde liebevoll mit mir umgehen? Ist sie vielleicht sogar vor ihm geflohen? Sie hätte mich doch einfach mitnehmen können. Warum erlebe ich das alles?
"Hey du.", ertönt plötzlich eine Stimme hinter mir.
David.
Schnell verschließe ich all meine Gedanken hinter einer großen Mauer und drehe mich um und lächle ihn an. Meiner Stimme vertraue ich noch nicht. Als er mich sieht, scheint sein Lächeln wie weggewischt.
"Ach du scheiße was ist denn mit dir passiert?"
"Was... was meinst du?"
"Was ich meine!? Deine Wange ist lila gefärbt und du hast Blut über deinem Auge. Du siehst schlimm aus, was ist passiert!?", fragt er geschockt.
Auch ich lächle nicht mehr. Ich habe nicht geschaut, ob mit meinem Gesicht alles okay ist. Ich bin so blöd. Was soll ich ihm denn jetzt sagen? Die wahrheit kann ich ihm nicht sagen. Auch, wenn ich das ganze nicht mehr will, es geht nicht. Was würde dann mit meinem Vater passieren? Was würde mit mir passieren? Nein, das kann ich nicht.
"Ich.. ich bin hingefallen."
Ah ja. Vom 'hinfallen' bekommt man mit Sicherheit auch solche Verletzungen im Gesicht.
"Hingefallen. Hör zu ich bin nicht blöd. Hat dich jemand geschlagen? Hast du dich geprügelt? Sag mir bitte die Wahrheit. Nur dann kann ich dir helfen."
Wieder sammeln sich Tränen in meinen Augen. Schnell drehe ich mich um und versuche, sie zurück zu halten.
"Es ist alles okay", bringe ich mühsam heraus. Aber er dreht mich vorsichtig um und umarmt mich. Bei dieser Berührung versteife ich mich direkt. Noch nicht mal das kann ich zulassen. Immer gehe ich von schlimmsten aus. Ich kenne David zwar erst seit gestern, doch trotzdem hat er mich noch nie in irgendeiner Weise verletzt. Warum kann ich ihm nicht vertrauen?
Als er mich loslässt, bin ich immer noch den Tränen nahe. Er merkt wahrscheinlich, dass ich jetzt nicht reden kann, und nimmt meine Hand.
Er führt mich einen Pfad an dem See entlang. Er zieht mich nicht, er drückt nicht fest zu. Er hält meine Hand ganz vorsichtig in seiner und passt sich meinem Tempo an. Er geht mit mir um, als wäre ich aus Glas. So kommt es mir vor.Als er stehen bleibt, sagt er:
"Ich will dir was zeigen, komm mir nach. Aber sei bitte vorsichtig."Sei bitte vorsichtig.
Noch nie habe ich so etwas gehört. Er will, dass ich auf mich aufpasse. Obwohl er mich nicht kennt.
Auf einmal macht er einen großen Schritt Richtung see. Erst jetzt schaue ich mich richtig um. Es sieht nicht anders aus, doch in dem See sind große Steine, über die er gerade läuft. Was will er mir denn zeigen? Hoffentlich ist er vorsichtig... Ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn er in den See fällt.
"Komm mit, es ist ganz einfach."
Vorsichtig springe ich von Stein zu Stein. Es macht wirklich Spaß. David ist schon auf der anderen Seite des Sees angekommen. Hier ist es so schön, warum kann mich mein Vater nicht wirklich hier lassen?
Auf dem letzten Stein angekommen bekomme ich Panik. Der Abstand ist zu groß, das schaffe ich nicht."Spring, ich fange dich, versprochen."
Diesen Satz habe ich schon einmal gehört.
-Flashback-
"Komm Malorie, spring, ich fange dich auf. Versprochen. Komm", mein Vater steht unter mir, ich bin auf einem Ast. Wir haben Besuch. Ich weiß nicht wer der Besuch ist, aber mein Papa ist lieb zu mir. Er ist nicht wie sonst böse und er tut mir auch nicht weh. Das ist schön. Er breitet die Arme weit aus und nach kurzem Zögern springe ich. Doch er fängt mich nicht wie Versprochen auf, sondern lässt mich auf dem Boden aufkommen.
Tränen sammeln sich in meinen Augen, meine Knie und Hände bluten.
Ich höre Papa böse lachen und er sagt:
"Ach Malorie, du kleines ungeschicktes Mädchen." Dann geht er weg. Warum hat er das gemacht?
-Schon wieder bin ich kurz vorm weinen. Ich konnte mich noch nie an meine Kindheit erinnern. Meine Erinnerung War einfach nicht da.
"Hope, es ist alles okay. Komm, du schaffst das. Es kann nichts passieren. Ich halte dich."Nein, ich schaffe das nicht. Mit zitternder Stimme entschuldige ich mich und springe schnell wieder zurück. Mit schnellen Schritten laufe ich zurück zu der Hütte, ohne zu wissen, ob David mir folgt.
Das war meine erste Kindheitserinnerung. Ich hatte immernoch ein bisschen Hoffnung, dass er mich als Kind anders behandelt hat. Doch diese wurde mir gerade genommen. Warum weine ich heute so viel!? In den letzten 16 Jahren habe ich so wenig geweint, und jetzt? Kaum bin ich aus seinen Fängen für eine Zeit befreit, breche ich zusammen. Da ist der Beweis. Er tut mir gut. Er beschützt mich. Ich weiß nicht wie, aber indem er mich schlägt, schützt er mich. Auch, wenn ich in der Schule nicht gut bin, bin ich immer nur zu Hause in meinem Zimmer zusammengebrochen. Nie in der Schule, nie in der Öffentlichkeit. Ohne ihn bin ich ein Wrack. Er gibt mir Halt. Ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht warum er es so macht, aber vielleicht will er mich nur stark machen. Warum weine ich, wenn ich doch eigentlich von ihm befreit bin? Er verletzt mich jeden Tag, ja. Aber jeden Tag lerne ich, auf mich alleine aufzupassen und auch in den härtesten Zeiten zu überleben. Er macht mich stark. Das muss der grund sein. Er stärkt mich, bevor er mich leben lässt. Er will, dass ich das Leben überstehe. So hilft er mir.
Schnell verkrieche ich mich wieder unter den decken, aber ich lasse die Tür auf, bis es dunkel ist. David ist mir nicht hinterher gekommen. Ich bin enttäuscht. Ich sollte es nicht sein, aber ich bin es. Er bedeutet mir etwas. Er hat mich angesprochen und wollte mich nochmal sehen. Von sich aus. Er hat mir meine erste Erfahrung Im Kontakt mit anderen Menschen geschenkt. Und ich habe ihn einfach so stehen lassen. Ich habe ihn nicht nett behandelt. Ich wäre verletzt, wenn er einfach abgehauen wäre. Jetzt habe ich ihn bestimmt verletzt, das wollte ich doch nicht...
Und jetzt sehe ich ihn nie wieder.
Um mich zu beruhigen, stehe ich auf und lege mich in den Schnee, mit dem Blick nach oben. Die Schneeflocken fallen in meine Haare und auf meine Haut. Dieses Gefühl beruhigt mich unglaublich sehr.
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Gefangen im eigenen zu Hause
RandomMein Name ist Malorie, das bedeutet Unglück. So werde ich jedenfalls von meinem Vater genannt, in der Schule werde ich Hope gerufen, weil niemand meinen richtigen Namen kennt und ich bezweifle, dass ich in Wirklichkeit Malorie heiße. Mein Vater hass...