Kapitel 22

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Hope, hör auf so etwas zu denken. Herr Becker würde sich riesige Vorwürfe machen, weil er dich nicht hat retten können. Und David... Er wäre todunglücklich. Er mag dich so sehr, genau wie Angelina. Dein Vater soll die größten Probleme bekommen, die es auf dieser Welt nur gibt! Verdammt, er vergewaltigt dich! Er schlägt dich! So so oft! Und auch, wenn du den Schmerz, den körperlichen und den psychischen Schmerz, immer verdrängst und gar nicht richtig wahrnimmst, weiß dein Herz, wie schlecht es dir geht. Und irgendwann wirst du das fühlen. Irgendwann geht es nicht mehr, das zu verdrängen. Und dabei kann man dir helfen. Man kann dir helfen, das alles zu verarbeiten! Mit dem Ganzen abzuschließen. Es gibt Hilfe. Auch für dich. Lass es raus. Weine dich aus, schreie alles raus oder ertrage den Schmerz im Stillen, aber spüre die Wärme von David. Er ist da. Es ist alles gut. Er ist da und er lässt dich nicht alleine.

Diese Worte bringen mich nur noch mehr aus der Bahn. Mir wurde doch noch nie geholfen. Ich weiß doch gar nicht ,wie ein normales Leben funktioniert! Ich kann nicht normal mit anderen Leuten reden, ich kann nirgendwo hin gehen, weil ich nicht weiß, wie das funktioniert! Ich habe Angst davor. Ich habe null Erfahrung vom Leben, obwohl ich 16 Jahre schon auf dieser Welt bin!

"Alles wird gut, hörst du?", flüstert er plötzlich. Mit so einer sanften Stimme. Dass ich nur noch mehr weinen muss. Mit unkontrollierbaren Schluchzern.

"Weißt du noch? Die Tage am See, als wir uns kennengelernt haben? Es hat fast jeden Tag geschneit und du hast den Schneeflocken immer ganz fasziniert zugeschaut, wie sie vom Himmel auf die Erde geflogen sind. Davon habe ich auch ein Bild gemacht ,ich kann es dir später mal zeigen. Es wundert mich, dass du davon nichts mitbekommen hast. Jeden Tag habe ich neue Bilder gemacht, und du hast es einfach nicht bemerkt. Wenn es kalt genug ist ,können wir nochmal zusammen an den See gehen und wenn er zugefroren ist ,können wir darauf Schlittschuh laufen. Wenn du willst. Das macht riesen Spaß! Und immer Sommer können wir in dem See schwimmen gehen und picknicken. Und vielleicht auch mit dem Zelt dort übernachten. Oh ja, und abends machen wir ein Lagerfeuer und ich nehme meine Gitarre mit."

Durch seine Worte kann ich mich beruhigen. Ich wische mir die Tränen weg und drehe mich auf die andere Seite, sodass ich ihn anschaue. Seine braunen Augen schauen mich traurig lächelnd an. Er strahlt immer so etwas beruhigendes aus.

"Tut mir leid...", flüstere ich.

"Ist schon okay, du musst dich für nichts entschuldigen. Möchtest du darüber reden?"

"Später vielleicht..."

Als es plötzlich an der Tür klopft, drehe ich mich auf die andere und David richtet sich auf.

"Ist alles okay bei euch?", höre ich Herr Becker seine Stimme. Sofort steigen wieder Tränen in meine Augen. Vorsichtig schaut David über seine Schulter zu mir und sagt einfach nichts.

Herr Becker setzt sich auch auf mein Bett, und anstatt wie sonst meine Tränen zu versiegeln, lasse ich ihnen freien Lauf. Wieder laufen sie über meine Wangen. Und in diesem Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass Herr Becker mich in den Arm nimmt. Dieser Gedanke ist so absurd, dass ich lachen muss. Aber meine Tränen wollen einfach nicht aufhören. Ich weiß noch nicht mal, warum ich genau weine.

Und dann passiert tatsächlich das, was ich mir wünsche. Ich setze mich mit Hilfe von Herr Becker auf, und dann schließt er mich in seine Arme. Und ich weine noch viel mehr. Ich weine. Und weine. Diese Geste ist so schön, und tut mir doch so weh. In meinem Herzen. Aber ich lasse es zu. Ich weiß, er will mir nichts antun. Er will mir einfach nur helfen. Er will mir helfen. Dieser Gedanke macht mich auch traurig. Eigentlich macht mich in letzter Zeit alles traurig. Vorsichtig drücke ich mich mit meinen Armen noch enger an ihn. Es ist so absurd, aber er ist die Person, die mir mit David am nächsten steht. Es ist so bescheuert, und doch ist es die Wahrheit. Ich höre, wie David leise aufsteht und den Raum verlässt. Aber ich vertraue Herr Becker immer noch. David gibt mir noch mehr Sicherheit, aber ich habe keine Angst vor Marco. Er tut gut. Er tut meiner Seele gut.

Als ich mich endlich wieder beruhigt habe und ich mir einigermaßen sicher sein konnte, dass ich nicht jeden Moment wieder in Tränen ausbreche, löse ich mich von ihm und laufe rot an. Irgendwie ist das ja schon peinlich... Ich murmle ein "Danke.. tut mir leid", aber genau wie David sagt er mir, dass ich mich nicht entschuldigen soll und dass er froh ist, dass ich endlich mal alles rausgelassen habe. Nach ein paar Sekunden Stille sagt er:

"Ich danke dir, dass du dich gerade fallen gelassen hast. Vielleicht ist das der erste Schritt, und bald kannst du auch darüber reden. Wenn es soweit ist, dann kannst du immer zu mir kommen. Nimm dir die Zeit die du brauchst, aber keine Sekunde länger hörst du?"

"ja... Danke, Herr Becker..."

"Marco. Ich glaube, du kannst mich duzen."

"Ich lasse dich ein bisschen alleine. Morgen wollen wir einkaufen gehen und wir dachten, du könntest uns begleiten. Ruh dich ein bisschen aus. Wenn es Abendessen gibt, holen wir dich." Lächelnd verlässt er das Zimmer. Und dann rollen schon wieder Tränen über mein Gesicht. Kann ich nicht irgendwann ausgeweint sein? Genervt lasse ich mich nach hinten fallen und schließe die Augen, und schlafe schließlich ein.

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Müde schlage ich meine Augen auf. So gut habe ich schon lange nicht mehr geschlafen... Die Sonne steht schon wieder hoch am Himmel. Schnell stehe ich auf und ziehe mir etwas von den neuen Klamotten an. Von unten höre ich Geräusche, also mache ich mich auf den Weg nach unten. In der Küche sind alle drei am Tischdecken. Als sie mich sehen, lächeln sie und wünsche mir einen guten Morgen. Am Frühstückstisch besprechen sie den heutigen Tag. Sie sind so süß.. Okay ich sollte damit aufhören, sonst kann ich gleich da weitermachen wo ich gestern Abend aufgehört habe.

Nach dem Frühstück wollen sie direkt einkaufen gehen, alle zusammen. Also räumen wir gemeinsam den Tisch ab und ziehe uns Schuhe und Jacke an. Mit einem Lächeln ziehe ich mir die neuen Sachen an und laufe mit ihnen zum Auto.

Im Supermarkt teilen wir uns auf, ich gehe mit Angelina und David mit Marco. Als wir zum Schluss in der Süßigkeitenabteilung stehen und ich mir etwas aussuchen soll, höre ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen. Ich erstarre in meiner Position und kann mich plötzlich nicht mehr bewegen. Mein Herz zieht sich zusammen, meine Mimik erstarrt.

"Hope, wer ruft dich da? Er kommt hierher."

"Mein Vater...", antworte ich mit brüchiger Stimme.

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt