Es ist Sonntag und ich sitze im Auto, auf dem Weg nach Hause. Die letzten zwei Tage bin ich liegen geblieben und habe nichts getan. So, als wäre ich zu Hause. Mit der einzigen Ausnahme, dass ich die ganze Zeit geweint habe. Ich bin gebrochen. Das ist mir klar geworden. Ich weiß nicht wie es so weit gekommen ist. Die ganzen letzten Jahre ging es mir immer gleich. Immer nicht gut, aber immer noch gut genug um meinen Schmerz zu überspielen. Und jetzt ist alles dahin. Meine Schutzmauer ist gebrochen. Und warum? Nur, weil sich mein Lehrer Sorgen gemacht hat und ich ein normales Gespräch geführt habe? Das kann doch nicht sein... All die Jahre bin ich der versuche ich stark sein und dann kommen zwei so normale Dinge auf mich zu, und ich bin zerstört. Das geht nicht. Das darf nicht sein.
Zu Hause sperrt er mich sofort wieder in mein Zimmer. Darüber bin ich auch sehr froh, ich hätte gedacht, dass er mit mir erst in das andere Zimmer geht... Es ist schon Abend, deshalb sehe ich ihn auch nicht mehr. Vielleicht hat er sich ja doch geändert. Vielleicht hat sich für ihn auch etwas geändert, genau wie für mich. Vielleicht ist er auch gebrochen, aber im guten Sinn.
Ja, vielleicht...
Vielleicht ist morgen auch der Weltkrieg vorbei. Und die Hungersnot und das ganze Elend. Ich darf mich nicht beschweren. So vielen Millionen Menschen geht es soviel schlechter als mir. Und ich heule rum.
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Am nächsten Morgen liegen neue Klamotten und eine Scheibe Brot schon in meinem Zimmer, also gehe ich ins Bad und mache mich fertig. Mein Auge und meine Wange sehen schon wesentlich besser aus, trotzdem überschminke ich es. Muss ja niemand sehen. Darf niemand sehen.
-In der Schule stehe ich wie immer alleine im Schulflur. Ich bereite mich innerlich schon darauf vor, glücklich zu wirken. In den ersten beides Stunden haben wir Herr Becker, eine Doppelstunde Deutsch. Ich hoffe, er spricht mich nicht an. Wenn er nochmal Kontakt mit meinem Vater aufnimmt, bin ich am ende...
Als es klingelt gehe ich in unseren Klassenraum und setze mich auf meinen Platz, wie immer ganz hinten am Fenster.
Nach der Begrüßung rede ich nicht mehr, versuche mich durch sichtbar zu machen. Ich möchte nicht, dass man mich sieht."In den nächsten Stunden kommt ein etwas schwierigeres Thema auf uns zu. Unsere Schule nimmt an einer Umfrage zum Thema Gewalt teil. Das Kollegium hat sich dazu entschieden, über Gewalt ausführlich mit euch zu sprechen. Uns ist sehr wichtig, mit euch darüber zu reden, euch auch aufzuklären. Euch zu lernen, wie man anderen helfen kann und wie wir im schlimmsten Fall euch auch helfen können."
Das ist jetzt ein Scherz. Was habe ich ihm getan? Warum wendet sich jeder gegen mich? Es wird so unglaublich anstrengend, ihn zu überzeugen, dass es mir gut geht. Es wird so unglaublich schwer.
"Der Schwerpunkt wird auf Gewalt in der Familie liegen, aber natürlich auch Gewalt hier in der Schule. Wir hatten ja schon über die seelische Gewalt, hauptsächlich über Mobbing, gesprochen. Das wird hier nochmal ein wenig wiederholt werden. Okay, machen wir den Anfang mit einem kleinen Film. 45 Minuten geht er, also diese Stunde lang. Danach werden wir darüber reden. Ihr wisst ja, dass wir diese Woche sozusagen eine 'Methoden- woche', anstatt nur einen Tag haben und wenn wir noch mehr Zeit brauchen, bekommen wir sie. Wir werden ausführlich über alles sprechen. Dafür brauche ich euer Vertrauen. Ihr habt mein Vertrauen, das wisst ihr. Ich bin auch Vertrauenslehrer an dieser Schule, ihr wisst es. Wenn ihr ein Problem habt, dann traut euch, mich anzusprechen. Ich werde auch mit jedem von euch ein vertrautes Gespräch führen.
So, jetzt lasst uns aber erstmal anfangen."
Das kann doch jetzt nicht wirklich sein Ernst sein. Soll das Zufall sein? Erst spricht er mich an, weil er sich Sorgen macht, er informiert das Jugendamt, welches dann doch nicht kommt, ich bleibe eine Woche lang aus der Schule und am ersten Tag fängt er mit so einem Thema an!? Das wird eine so anstrengende Woche für mich. Ich kann nicht 7 Stunden am Stück gut gelaunt sein und mit einem Lächeln im Gesicht rumlaufen. Muss ich das denn überhaupt? Kann doch sein, dass ich nicht lächle, weil ich keine Freunde habe oder weil ich mit der Schule überfordert bin. Das stimmt ja auch teilweise.
Eigentlich will ich den Film nicht sehen und auch nicht hören. Aber wie soll ich weghören, wenn es mich betrifft und wenn es mich interessiert? Da kann ich das nicht einfach ignorieren.
Das Problem ist, dass so viele Sätze auf mich zutreffen. Ich will meinen Vater in Schutz nehmen, weil er mein Vater ist. Ich habe nur ihn. Meine Mutter ist weg, jemanden anderen aus meiner Familie habe ich nicht. Was passiert mit uns, wenn herauskommt, dass er mich schlägt? Ist es überhaupt schlimm genug? In diesem Film wird gesagt, dass jedes 2. Kind schon mindestens eine Backpfeife oder einen Klaps auf den Po bekommen hat und dass Gewalt für sie bedeutet, dass man Blutungen oder Knochenbrüche erleidet. Ich hatte bisher nur innere und äußere Blutungen. Vielleicht ist es auch gar nicht so schlimm, als ich es mir einbilde...
Bei so vielen Sätze kommen mir Tränen in die Augen. Noch nie ist mir das in der Schule im Unterricht passiert. Noch nie."Die Eltern fügen den Kindern nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch seelische Gewalt zu."
Bei diesem satz läuft mir eine Träne über die Wange. Danach wird es nicht besser. Ich wende meinen Blick von dem Film ab und konzentriere mich auf den Baum, der vor dem Fenster steht. Da hängt ein Blatt, es ist Winter und das Blatt ist grün. Grün steht für Hoffnung. Der Baum trägt im Winter ein grünes Blatt. Der Baum steht für Hoffnung.
Nur ein Blatt hängt, die Äste sind mit Schnee bedeckt. Ich konzentriere mich auf den Schnee und schon sind meine Gedanken bei David. Ob ich ihn hier sehen werde? Er hat doch gesagt, dass er ab heute auch auf diese schule geht. Ich möchte mich bei ihm wenigstens entschuldigen.
-Nach den Film und einer kleinen Pause reden wir darüber, wie sich die Kinder und Jugendlichen fühlen wenn sie geschlagen werden. Herr Becker möchte, dass jeder etwas dazu sagt. Ich möchte aber nicht. Ich werde nicht freiwillig etwas sagen. Ich möchte nicht auffallen. Das wurde auch in dem Film gesagt. Jugendliche, die geschlagen werden, prügeln sich nicht mit ihren Klassenkameraden. Sie sind nicht laut in der Klasse, sie geben es diese Gewalt unbedingt weiter. Die meisten sind die, die nicht auffallen. Die im Stillen leiden und nicht auffallen wollen. So ist es wohl auch bei mir, wenn ich denn überhaupt zu denen zähle, die wirklich schlimm geschlagen werden. Seit einer Woche hat er mich nicht mehr angefasst, vielleicht wird es wirklich besser.
"Hope, wie haben die Kinder auf dich gewirkt? Wie fühlen sie sich, wenn sie geschlagen werden? Oder danach?"
Bei meinem Namen zucke ich leicht zusammen. Ich habe nicht aufgepasst. Ich muss aber etwas sagen. Soll ich es einfach auf mich beziehen?
"Sie suchen den Fehler bei sich selbst. Sie sind anfangs verletzt von ihren Eltern und natürlich tut es ja auch weh, aber sie wissen immer, dass sie selbst etwas falsch gemacht haben und dass die Eltern nicht anders können", sage ich schließlich.
"Ist es denn so? Haben die Kinder immer etwas falsch gemacht?"
"Ja. Sonst würden sie nicht geschlagen werden. Sonst hätten die Eltern keinen Grund dazu."
Herr Becker schaut mich eine Weile nur an, dann nimmt er meine Sitznachbarin dran.
"Hope, ich glaube nicht, dass es die Schuld der Kinder ist, dass sie geschlagen werden. Die Eltern machen den fehler. Sie schlagen ihre kinder, egal was sie gemacht haben. Es ist der Fehler der Eltern, nicht der Kinder. Kinder müssen noch lernen, genau so wie wir auch noch viel lernen müssen. Indem Eltern die Kinder schlagen, lernen Sie zwar, dass irgendetwas falsch ist, aber sie wissen nicht, was falsch ist oder wie man es richtig macht. Sie bekommen zu spüren, dass sie unerwünscht sind. Gewalt löst keine Probleme, sie erschafft neue. Nicht die Kinder sind daran schuld. Die Eltern sind es."
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Gefangen im eigenen zu Hause
RandomMein Name ist Malorie, das bedeutet Unglück. So werde ich jedenfalls von meinem Vater genannt, in der Schule werde ich Hope gerufen, weil niemand meinen richtigen Namen kennt und ich bezweifle, dass ich in Wirklichkeit Malorie heiße. Mein Vater hass...