Kapitel 11

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Vorsichtig öffne ich meine Augen einen Milimeter und versuche zu erkennen, wo ich mich befinde. Aber alles ist noch verschwommen. Ich höre es Piepsen und bin mir nicht sicher, ob ich mir das vielleicht nur einbilde. Auf einmal geht eine Tür auf und ein Mann im weißen Kittel kommt herein. In irgendeiner Weise macht mir das alles Angst. Wo bin ich hier? Und was ist passiert? Ich war in der Schule und dann.... keine Ahnung. Ich schließe meine Augen wieder und öffne sie erst, als der Mann meinen Namen sagt.

"Hallo Hope, ich bin Doktor Riflin. Weißt du noch, was passiert ist?"

Doktor? Bin ich... im Krankenhaus?

"Wo bin ich?"

"Du bist im Krankenhaus."

"Oh... Ich... ich weiß nur noch, dass ich in der Schule war und wir Rollenspiele gespielt haben und dann... ist alles schwarz."

"Ja, du bist umgekippt. Ich möchte dich untersuchen, kannst du dich bitte hinsetzen?"

Was will er mich denn untersuchen? Ich war noch nie bei einem Arzt!

"Dir passiert nichts, keine Angst. Komm, ich helfe dir."

Er kommt auf mich zu und ich lasse zu, dass er mir beim Hinsetzen hilft. Ich fühle mich unglaublich schwach. Und ich habe so großen Hunger...

"Wann hast du das letzte mal etwas gegessen?", fragt er mich und schaut mich lieb an. Ich muss die Wahrheit sagen, oder? Das kommt dann aber sehr komisch rüber, wenn ich sage, dass ich vorgestern die letzte Mahlzeit hatte. Ich kann ih das nicht sagen. Das geht nicht, da schöpft er gleich Verdacht.

"Gestern Abend, warum?"

"Da sagen deine Blutbilder aber etwas anderes. Du hast gestern nichts gegessen, stimmts?"

Ich schaue nur schweigend auf den Boden.

"Lass uns eine Abmachung treffen. Ich sage dir immer die Wahrheit und du mir. Wenn du auf eine Frage nicht antworten möchtest, sagst du einfach nichts. Also, hast du gestern etwas gegessen?"

Ich schüttle vorsichtig den Kopf.

"Und vorgestern?"

"Ein bisschen."

"Wie viel ist ein bisschen?"

"Eine Scheibe Brot."

"Mehr nicht?"

Wieder schüttle ich den Kopf.

"Hungerst du absichtlich?"

Geschockt schaue ich ihn an. Niemals würde ich freiwillig diese Schmerzen ertragen. Ich weiß, dass es viele Mädchen an meiner Schule gibt, die das machen, aber ich könnte das nicht. Ich muss es tun, mir bleibt nichts anderes übrig. freiwillig würde ich das niemals tun.

"Nein!", antworte ich deshalb schnell.

"Warum isst du dann so wenig?"

Shit.

Ich hätte doch so tun sollen, als würde ich das freiwillig tun. Ich senke meinen Blick. Ich muss nicht antworten. Das hat er selbst gesagt. Ich muss nicht. Ich muss nicht. Ich will aber. Ich darf nicht. Ich darf nicht. Ich darf nicht.


"Okay, du musst nicht mehr reden. Ich würde dich jetzt gerne untersuchen, darf ich das?"

Ich nicke nur. Ich traue meiner Stimme nicht. Wahrscheinlich stehe ich schon wieder kurz vor einem Zusammenbruch, so fühle ich mich zumindest. Mein Herz schlägt rasend schnell, meine Hände zittern und mir ist kalt. Meine Gedanken hören nicht auf zu denken. Am liebsten würde ich dem Arzt alles erzählen, aber das geht nicht. Ich darf das nicht machen. Damit würde ich alles zerstören. Ich würde alles verlieren, was mir noch geblieben ist't.

"Es ist alles okay. Ziehst du bitte deinen Pulli aus?"

Zögernd gehe ich seiner Bitte nach. Ich habe noch ein Top darunter, also sieht man so gut wie keine Verletzungen. Nur ein paar Narben, eine kleine Verbrennung von gestern und mein linker Arm ist eingewickelt, aber das kann beim Sport passiert sein.

Nachdem er sich ein paar Sachen aufgeschrieben hat und relativ zufrieden ist, fragt er mich schließlich:

"Was ist mit deinem Arm passiert?"

"Sportunfall. Ist nicht gebrochen, alles gut."

"Soll ich mir das mal ansehen?"

"Nein das geht schon, danke."

"Hope, ich habe keine Krankenakte von dir gefunden. Wann warst du das letzte mal bei einem Arzt?"

"Ähm.. das... das weiß ich nicht so genau..."

"Warst du überhaupt schonmal bei einem Arzt?"

Wieder weiche ich seinem Blick aus. "Klar", gebe ich unsicher von mir. Lügen war noch nie meine Stärke.

"Ziehst du bitte auch deine Hose aus?"

"Warum denn das?"

"Weil ich dich einmal komplett durch-checken möchte. Ich will sicher sein, dass mit dir alles okay ist. Jeder wird mal durchgecheckt, das ist ganz normal."

"Mit meinen Beinen ist alles okay. Da... da gibt es nichts zu kontrollieren."

Keine 10 Pferde würden mich dazu bringen, meine Hose auszuziehen. Dann würde alles auffliegen. Ich kann weder die Verbrennungen erklären, noch die anderen Narben und Striemen. Nein, niemals...

Ich muss hier weg. Ich kann hier nicht länger bleiben. Er wird es herausfinden. Er ist Arzt verdammt, da wird er das bestimmt schon kennen. Ruckartig stehe ich auf und renne los, aber ich komme nur bis zur Tür. Ich sehe wieder alles verschwommen. Verdammt, ich sehe nichts mehr. Als mich zwei starke Hände von hinten packen, überkommt mich die Panik und mein Körper stürzt sich ohne Vorwarnung wieder in die Ohnmacht.

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Müde öffne ich meine Augen. Scheiße. Alles ist nur noch ein blöder Kackhaufen! Langsam reicht es mir mit den Ohnmachten und dem Umkippen! Ich brauche essen! Lange überlebe ich das nicht mehr, ich liege im Krankenhaus! Nach Hause kann ich nicht, in die Schule kann ich nicht, hier bleiben kann ich nicht. Zu Hause würde r mich umbringen, in der Schule bin ich ein wandelndes Wrack und hier wird er mich finden,wenn er nicht schon längst bescheid weiß!

Ich bin so verzweifelt wie schon lange nicht mehr. Was soll ich nur tun...?Tränen sammeln sich in meinen Augen und plötzlich geht die Tür auf. Vor lauter Angst fange ich an zu weinen. Lautlos, aber in mir schreit alles. Es ist bestimmt mein Vater. Er hat mich gefunden. Er hatte recht, ich kann vor ihm nicht weglaufe. Doch als ich das Gesicht von Herr Riflin sehe, wende ich schnell meinen Blick ab. Langsam werde ich schon paranoid...

Er darf mich nicht weinen sehen. Niemand sollte mich weinen sehen. Weinen bedeutet Schwäche. Schwäche bedeutet, dass man nicht stark sein kann. Und das bedeutet, dass irgendetwas passiert ist.

Vorsichtig wische ich mir die Tränen weg und versuche, mich auf die sehr interessante weiße Wand gegenüber von mir zu konzentrieren und meine Gedanken auszuschalten.

"Hope, ich glaube, wir müssen mal miteinander reden. Glaubst du nicht auch?"

Nein. Nein, das darf nicht sein. Dieser Satz und dieser Ton, sie sagen schnelles aus. Irgendetwas weiß er. Er klingt besorgt. Schon wieder macht sich jemand Sorgen um mich. Dabei muss ich doch das Gegenteil erreichen. Erneut will ich weinen, einfach alles rauslassen was sich die ganze Zeit angestaut hat. Aber ich darf nicht. Er darf es nicht sehen. Reiß dich zusammen.

Trotzdem antworte ich nicht, sondern schaue ihn mit einem sanften Lächeln an. Ich glaube ,wenn ich jetzt reden müsste, würde es in einem Heulkrampf enden. Mir steckt ein Riesen großer Kloß im Hals und da hilft auch kein Schlucken, Husten oder räuspern.

"Was ist mit dir passiert? Als du ohnmächtig warst, hat dir eine Krankenschwester umgezogen. Sie hat deine Verletzungen gesehen. Die sind nicht alle beim Sport passiert. Du hast so viele Narben und Strömen, teilweise noch offene Wunden und frische Verbrennungen. Hope, ich möchte dir helfen. Kann es sein, dass du nichts zu essen bekommst? Wirst du zu Hause geschlagen? Sag mir bitte die Wahrheit. Es ist eine große Chance für dich. Du möchtest doch auch, das endlich alles besser wird und du wieder lächeln kannst, oder nicht? Ich möchte dir so gerne helfen, aber dafür musst du dir helfen lassen."

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt