Kapitel 2

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Ich sitze bereits in der letzten Unterrichtsstunde für heute bei unserem Klassenlehrer Herr Becker. Er ist ein relativ junger, ordentlicher Mann und hat meine Klasse und mich meistens unter Kontrolle. In Gedanken versunken schaue ich aus dem Fenster und bekomme nur am Rande mit, wie er unsere Mathe- Klassenarbeit austeilt, er unterrichtet Mathe und Deutsch bei uns.
Ich habe so gut wie nichts ausfüllen können, was einfach daran liegt, dass ich nicht lernen kann. Ich habe in meinem zimmer nur wenig Licht und könnte dort sowieso nichts lernen, weil ich die Schulsachen nicht mit nach oben nehmen darf und unten zu arbeiten und zu lernen traue ich mich nicht und das darf ich auch nicht immer. Also muss ich mich damit zufrieden geben, dass er mich nicht nur misshandelt, sondern mir auch meine Zukunft versaut.

Vorsichtig streife ich die Ärmel meines Pullis ein wenig nach oben und berühre den Abdruck der Fesseln von dieser Nacht. Hoffentlich hört das ganze bald auf... Ich kann nicht mehr lange mitspielen...
Irgendwann wird er dich noch umbringen...
Schnell verbanne ich diesen Gedanken wieder. Das würde er nicht tun. Bestimmt nicht..
Willst du es darauf anlegen?
...

Schnell verstecke ich meine Handgelenke wieder als Herr Becker mir meine Arbeit hinlegt und wahrscheinlich darauf wartet, dass ich ihn anschaue. Aber diesen gefallen werde ich ihm nicht machen, wahrscheinlich würde ich mich sogar in seine Arme flüchten und in Tränen ausbrechen. Lustig, was? Er ist mein Lehrer und ich will mich an ihn klammern....
"Hope, kommst du nach der Stunde kurz mal zu mir nach vorne?"
Erschrocken nicke ich, dann schlage ich die Arbeit auf und schaue sehr interessiert hinein. Nein, es interessiert mich nicht dass ich eine 5- habe. Und nein, es wird auch meinen Vater nicht interessieren. Und nein, ich heiße nicht Hope. Das war nur ein blödes Missverständnis.

Am ersten Schultag auf der weiterführenden Schule kannte mein damaliger Klassenlehrer meinen Namen nicht. Ich verstand zwar nicht warum, aber es war mir auch egal und als er mich nach meinem Namen fragte blieb ich stumm und schaute weiter auf meinen Tisch. Während der Stunde schrieb ich das Wort 'hope' auf mein Heft, aus dem einfachen Grund, dass ich nicht aufgeben wollte und mir dadurch ein bisschen Hoffnung gegeben habe. In diesem Moment stand mein Lehrer hinter mir und sagte plötzlich: 'Du heißt also hope, das ist ein schöner Name.' Und ging dann wieder zu seinem Pult. Und deshalb nennen sie mich alle hope. Ich habe auch nichts dagegen, weil es mich immer daran erinnert, nicht aufgeben zu dürfen. Natürlich fände ich es schöner, wenn ich meinen richtigen Namen kennen würde, aber das Leben ist eben kein Wunschkonzert.

Nach dem Klingeln, was für den Rest der Klasse bedeutet, dass sie jetzt nach Hause gehen dürfen, zu ihrer Familie und etwas leckeres essen dürfen, packe ich sehr langsam meine Sachen ein und gehe schließlich langsam nach vorne.

"Sie... wollten mich sprechen?", frage ich schüchtern.

"Ja. Setz dich doch kurz. Ich wollte dich fragen, wie es dir geht."

Stirnrunzelnd weiche ich der Frage geschickt aus. "Deshalb wollten sie mich sprechen?"

"Ja. Also? Wie geht es dir?"

"Mir geht es gut", kommt zu schnell aus meinem Mund geschossen. Meine Hand klammert sich um mein Handgelenk und drückt zu. Ich will jetzt Schmerzen spüren. Ich möchte aus dieser Situation flüchten.

"Ich mache mir Sorgen um dich, hope."

"Das brauchen sie aber nicht."

"Ich glaube schon. Ich bin jetzt schon seit eineinhalb Jahren dein Klassenlehrer und bekomme vieles mit. Du hast so oft blaue Flecken. Du bist so zerbrechlich dünn und wenn ein Anruf zu dir nach Hause getätigt wird, hört man immer nur einen überschwänglich freundlichen Vater. Wo ist deine Mama?"

Sofort versteinert sich meine Miene.
"Sie ist nach meiner Geburt abgehauen."

Ich höre ihn leise seufzen. "Das tut mir leid. Und dein Vater? Kümmert er sich gut um dich?"

"Hören sie, ich habe wirklich keine Zeit. Mein.. Vater wartet auf mich um mich abzuholen und ich möchte ihn nicht länger warten lassen."

"Das ist doch super, dann komme ich einfach kurz mit um mir selbst ein Bild zu machen."

Und schon packt er seine restlichen Sachen zusammen und geht vor mir zur Tür.

Nein. Er kann nicht mitkommen. Mein Vater wird sowieso schon sauer sein, dass ich ihm habe warten lassen und wenn jetzt auch noch ein Lehrer von mir mitkommt, wird er später komplett ausflippen.

"Moment, sie müssen wirklich nicht mitkommen..." Aber es ist zu spät. Herr Becker lässt sich nicht mehr umstimmen...
Und so laufen wir nebeneinander mit genug Abstand auf den silbernen Audi zu.

"Malorie, wo hast du dich schon wieder rumgetrieben!? Denkst du, mir macht es Spaß hier auf dich un... Oh, hallo. Und wer sind Sie?"
Zum Glück hat er noch rechtzeitig gemerkt dass da jemand ist der uns zuhört.

"Hallo... Ich bin der Klassenlehrer von ihrer Tochter, Herr Becker. Ich hätte ein kleines Anliegen, wenn man das so nennen kann."

"Kann ich Ihnen da helfen?"

"Ja, bestimmt. Ich habe das Jugendamt über ein paar Dinge informiert, die ich als Klassenlehrer mitbekomme." Geschockt starre ich ihn an.

"Wie? Sie fangen mich auf einem Parkplatz ab, erklären mir, dass Sie der Klassenlehrer sind und sagen mir dann, dass das Jugendamt bei uns vorbei kommen wird!?"

"Ja. Nicht nur ich mache mir Sorgen um Hope. Und wegen verschiedenen Vorfällen sah ich mich dazu gezwungen, das Jugendamt zu informieren. Sie werden in 2 Tagen Ihnen einen Besuch abstatten."
Mein Vater steht regungslos da und auch ich kann das Ganze noch nicht wirklich realisieren. Das einzigste woran ich denke ist, dass er mich umbringen wird. Er wird mich töten.

Herr Becker lächelt mir nochmal zu und läuft dann in eine andere Richtung. So gerne würde ich ihm hinterher rennen und um Hilfe beten, aber das kann ich nicht machen. Das geht einfach nicht. Es ist schon schlimm genug, dass ich das überhaupt in Erwägung ziehe.

Wütend zerrt mich mein Vater in das Auto. Die ganze Fahrt sagt niemand ein Wort. Eigentlich ist das ein gutes Zeichen, aber umso ruhiger er jetzt ist, desto wütender wird er zu Hause sein.

Zu Hause angekommen steige ich langsam aus und laufe hinter ihm durch die Haustür.

Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder er hält sich bis nach dem Besuch zurück, oder ich habe gleich ein großes Problem.

"Geh in dein Zimmer." Schnell gehe ich an ihm mit eingezogenem Kopf vorbei, bevor er es sich anders überlegt. Was wird jetzt passieren? Das Jugendamt kommt am Mittwoch zu uns, das könnte eine reisen Veränderung bedeuten. Das ist meine letzte Chance. Wenn sie feststellen, dass hier alles in Ordnung ist, bin ich hier für immer gefangen. Meine allerletzte Chance wäre nur noch weglaufen, aber dann kann ich mich auch gleich erhängen. Wie soll ich denn da draußen überleben?

Am Mittwoch wird sich so viel für mich entscheiden...

"Malorie!"

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt