Kapitel 21

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Ich sitze wieder in dem Zimmer auf dem Bett und denke über das Gespräch nach. Eigentlich sind wir zu keiner richtigen Lösung gekommen. In ein paar Tagen wollen wir schauen, wie es weitergeht, jetzt soll ich erstmal hier bleiben. Angelina will mit mir gleich Shoppen gehen. Ich will nicht, ich meine ich bin nur irgendjemand, die bei Ihnen wohnt und ein ganzes Zimmer bekommt und Essen und Trinken, und jetzt soll ich mit ihr sogar shoppen gehen? Das kann ich nicht... Ich weiß auch gar nicht, warum sie nicht fragen, ob ich Anziehsachen von zu Hause holen kann. Jeder normaler Mensch könnte das doch tun und eigentlich wissen sie nicht, dass ich kein normaler Mensch bin.

"Hope?", höre ich ihre Stimme und sie kommt in das Zimmer herein.

"Komm, wir fahren los. Du brauchst doch ein bisschen was zum Anziehen."

"Nein, das ist schon okay... Ich brauche keine Klamotten, das was ich habe reicht mir. Danke..."

"Das kommt gar nicht in Frage. Du hast keinen Schlafanzug und du kannst auch nicht 5 Tage hintereinander die selbe Unterwäsche anhaben. Na komm, ich mache das gerne. Wir nehmen auch Bello mit. Na komm."
Sie kommt auf mich zu und nimmt mich an der Hand mit nach draußen. Und zum ersten mal habe ich das Gefühl, dass sich jemand um mich sorgt. Mit gesenktem Kopf gehe ich hinter ihr her, bis zum Auto, in dem Bello schon auf der Rückbank sitzt.

"Ich dachte, da ihr euch so gut versteht, freust du dich vielleicht, wenn er mitkommt", erklärt Angelina. Lächelnd setze ich mich ins Auto und wir fahren los.

Wir gehen in so viele Läden und Geschäfte, dass mich das ganze eigentlich schon überfordert. Ich habe mir noch nie selbst Klamotten gekauft, geschweige denn dass ich mal Shoppen war! Obwohl es verdammt anstrengend ist, macht es einen Riesen Spaß. Sie kauft mir neue Schuhe und Oberteile, Hosen und sogar eine neue Jacke... Egal wie lange ich protestiere, weil das alles so teuer ist, kauft sie trotzdem die ganzen Klamotten. Es sind nur materielle Dinge, aber trotzdem fühlt es sich gut an. Nicht, weil ich Dinge bekomme, sondern weil sie es tut, um mir zu helfen. Ich glaube, sie weiß ganz genau, was los ist. Damit meine ich nicht, dass sie weiß, wie mein Vater mich behandelt, sondern dass sie weiß, dass für mich nicht selbstverständlich ist, Shoppen zu gehen und Eis zu essen.

Als wir am frühen Abend wieder nach Hause kommen, sitzen Herr Becker und David vor dem Fernseher. Ich trage mit viel mühe die schweren Tüten hoch, doch bevor ich oben bin höre ich David rufen:

"Hope, wo willst du denn so schnell hin? Du musst jetzt wie meine Mama uns die neuen Sachen vorführen!"

"Au ja, Modenschau!", lacht Herr Becker.

Angelina kommt die Treppe zu mir hoch und meint lächelnd: "Wo sie recht haben, haben sie recht. Komm mit." Sie nimmt mir die Tüten ab und lässt mich ein bisschen verwirrt auf der Treppe stehen. Modenschau. Vor meinem Lehrer. Und meinem besten Freund. Ich. Haha. Lustig. Nicht.

Im Wohnzimmer stehe ich immer noch ziemlich verwirrt vor ihnen und weiß nicht, was ich machen soll. Wird hier jetzt gleich ein Steg aufgestellt auf dem ich dann hin und her laufe oder was?

"Auf Modenschau müsst ihr heute glaube ich verzichten", meint Angelina als sie mich anschaut. "Aber wir können euch ja trotzdem zeigen, was wir gefunden haben. Es sind echt schöne Sachen."

Damit geben sie sich dann Gottseidank zufrieden. Ich glaube sowieso nicht, dass es sie wirklich interessiert. Wahrscheinlich wollen sie nur höflich sein, aber das ist lieb genug. Sie schauen ganz interessant die Klamotten an und sagen gefühlte hundert mal, dass mir das bestimmt fabelhaft steht und so weiter. Nachdem sie endlich alles gesehen haben gehe ich müde nach oben. Ich weiß nicht warum, aber auf einmal werde ich traurig. Es ist eigentlich total schön, diese Familie lachen zu sehen, den Familienalltag kennenzulernen und es ist so lieb von ihnen, dass ich hier schlafen und essen darf. Ich meine, welche Familie hätte mich überhaupt aufgenommen und wäre mit mir Klamotten einkaufen gegangen!? Ich kenne das alles gar nicht. Mir schießen die Tränen in die Augen, wenn ich Herr Becker sehe, wie er David einen Kuss auf die Haare gibt oder wenn er seine Frau liebevoll in die Arme nimmt. Ich schrecke vor Berührungen immer zurück, ohne Ausnahme. Aber hier, hier ist es okay, wenn man mich berührt. Hier fühle ich mich wohl... Ich vertraue dieser Familie, und ich hoffe, es ist kein Fehler. Ich wünschte, ich hätte auch so ein Umfeld... Traurig lege ich mich auf mein Bett und schaue an die Decke.

Ich habe niemanden.

Eine Träne rollt über meine Wange und wird von dem Kissen aufgefangen. Ich fühle mich verloren, obwohl ich doch eigentlich gerade dabei bin, mich zu finden.

Es ist gut, dass du so fühlst.

Warum denn das? Ist es für dich schön, wenn du nicht weißt, wo du hinsollst, weil es keinen Ort gibt, an dem du wirklich zu hause bist? Weil du nie etwas anderes als deine vier Wände von dem kleinen Zimmer gesehen hast, in dem nichts steht? Keine Matratze, kein Bett, kein Kissen, kein nichts?

Nein, nicht deshalb. Sondern weil du merkst, dass er dir dein Leben gestohlen hat. Deine wertvollen Jahre hat er dir gestohlen und dein ganzes Leben ruiniert. Natürlich ist das nicht schön, aber es ist schön, dass du es endlich einsiehst. Dass du es zumindest ansatzweise siehst, was er angestellt hat.

Mit noch mehr Tränen in den Augen rolle ich mich auf die Seite und umschlinge meine Beine mit den Armen, als die Tür plötzlich aufgeht. Ich weiß nicht ,wie ich mich verhalten soll, deshalb schließe ich einfach meine Augen und bewege mich nicht. Und plötzlich, plötzlich da spüre ich einen Körper neben meinem liegen. Eine Hand streichelt durch mein Haar und der andere Arm legt sich über mich, hält mich fest, beschützt mich. Mir ist es so egal, ob es Herr Becker oder David oder Angelina ist. Es ist mir so egal. Aber dieses Gefühl, dass da jemand ist, der bei mir ist, der mich nicht fallen lässt, nicht alleine, dieses Gefühl zerreißt mein Herz. Meine Lippen geben komische Geräusch von sich, aber es ist mir so egal. Ich fühle mich so verloren. Ich weiß nicht was ich machen soll. Wahrscheinlich fühle ich mich nicht nur so, wahrscheinlich bin ich es auch.

Egal was ich mache, es wird falsch sein. Ich kann keine Entscheidungen treffen, das habe ich noch nie getan und ich will es auch nicht tun! Damit kann ich so viel kaputt machen... Und das will ich nicht. Manchmal will ich einfach nur verschwinden. Dann hätte mein Vater keine Probleme mehr. Und ich auch nicht. Und Herr Becker müsste sich auch keine Gedanken mehr machen.

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt