Kapitel 20

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"Ja? Warum? Das bin doch ich."

"Ja, genau deshalb. Ich fand die Kulisse so schön, und mit dir, wie du da sitzt, macht das das ganze Bild perfekt. Ich wusste schon bevor ich dich angesprochen habe, wegen den Beeren, dass du ein wundervoller Mensch bist."

Wie süß!

Ist okay.

"Wienlange standest du an dem Tag schon hinter mir?"

"Eine Weile..."

"Hope, kommst du kurz mit? Ich zeige dir dein Zimmer", reißt uns Herr Becker aus unserer Unterhaltung. Mit strahlenden Augen folge ich ihm. Er hat ein Bild von mir in seinem Zimmer hängen. Von mir. Er ist wirklich ein Freund. Mein Freund. Mein bester Freund.

Hab ja sonst eh niemanden.

"Das Zimmer ist direkt neben David seinem", sagt er und macht die nächste Tür auf.

Als erstes sehe ich ein Bett, mit wunderschöner Bettwäsche überzogen und zwei großen Fenstern daneben. Das Zimmer ist im Vergleich zu David seinem so klein, und doch so schön. Eine kleine Kommode steht neben der Tür und ein Spiegel darüber.

"Hier darf ich schlafen?", frage ich fassungslos.

Weißt du was traurig ist? Bei deinem Lehrer, einer fast völlig fremden Person, hast du ein besseres Zimmer als bei deinem Vater. Hier wirst du besser behandelt, bekommst lebensnotwendige Dinge, hier fühlst du dich wohl, bei deinem Vater nicht. Willkommen im normalen Leben, hope. Herzlich willkommen. Genieße es.

Herr Becker und David verlassen irgendwann den Raum und schließen die Tür, ich sitze auf dem Bett und schaue aus dem Fernster.

Über was denkst du nach?

Ich gebe dir gerade recht. So gut wie jedes Kind auf meiner Schule hat so ein Zimmer wie dieses hier, oder so eins wie David. So gut wie jedes Kind hat genug zu essen, und eigene Sachen. Und ich nicht. Und du hast recht, das ist nicht normal. Ich wusste das vorher gar nicht. Für mich ist es ja auch normal, nichts zu haben. aber.... für die meisten nicht.

Ich stehe auf und stelle mich vor den Spiegel, warum weiß ich nicht. Seit langer Zeit schaue ich mir in mein Gesicht, in meine Augen. Mein Gesicht ist dünn, sehr dünn und kantig. Mit eingefallenen Augen und blauen Flecken. Ich habe hässliche, blaue Flecke in meinem Gesicht.

Ohne zu überlegen ziehe ich mir meinen Pulli aus. Ich stehe im Top vor dem Spiegel und beobachte meinen Oberkörper, beziehungsweise meine Arme. Sie sehen so unglaublich hässlich aus. Dünn, knochig, blau, rot, lila. Überall sind Narben zu sehen und die Brandwunde ist auch noch nicht verheilt. Es ist so hässlich. Angewidert ziehe ich mich schnell wieder an. Wie kann David sich nur mit mir abgeben? Mit Tränen in den Augen schaue ich aus dem Fenster. Ich kann mich selbst nicht sehen. Ich will mich nicht sehen. Mein Körper sieht entstellt aus. Und meine Beine sind bestimmt noch hässlicher.

Und wer hat dir das angetan? Wer ist für deinen Zustand verantwortlich? Sprich es aus. Sag es, hope. Ich will es hören.

"Mein Vater...", flüstere ich nach langer Zeit.

Und es fühlt sich nicht gut an. Es macht mich traurig. Ich traue mich endlich, mich langsam an die Wahrheit heran zu tasten, aber es macht so traurig.

Hope, deine Wahrheit ist traurig. Aber wir können es bald zum Guten wenden. Weißt du, warum du abends immer weinst? Warum nicht am Tag? Weil Nächte ehrlich sind. Und weil sie in der Dunkelheit liegen. Die Wahrheit ist auch im Dunklen, so oft sieht man die Wahrheit nicht. Aber die Nächte zeigen sie. In der Nacht sind wir ehrlich. Und du bist dabei, die Nacht zum Tag zu verwandeln. Du bist dabei, die Wahrheit zu sehen und zu akzeptieren, aber vor allem zu ertragen und zu überstehen. Und danach gibt es eine viel schönere Wahrheit, versprochen.

Tief atme ich durch. Ja, ich bin dabei, die Wahrheit zu sehen. Und es ist wirklich and der zeit. 16 Jahre, 5.840 Tage, 140.160 Stunden, 8.409.600 Sekunden habe ich sie verdrängt. Natürlich ist es schwer, sie zu finden. Sie zu verstehen. Sie zu ertragen. Aber ich muss es tun. Auch, wenn ich daran kaputt gehe. Bei ihm gehe ich noch viel mehr und schmerzhafter kaputt.

Als es an der Tür klopft und niemand herein kommt, stehe ich auf und mache auf. Vor er Tür steht eine Frau, die mich freundlich anlächelt.

"Hallo Hope, ich bin Angelina, Marcos Frau. Ich möchte etwas kochen und wollte dich fragen, ob du mir vielleicht dabei helfen möchtest."

"Wenn Sie das möchten, mache ich das gerne."

"Nenn mich ruhig Angelina. Ich fühle mich immer so alt, wenn man mich mit "sie" anspricht. Na komm, magst du Spagetti Bolognese?", fragt sie mich unterwegs.

"hm.. ja, bestimmt, klar."

Was auch immer das ist, ich bin mir sicher, es wird schmecken. Ich habe so einen großen Hunger, wahrscheinlich würde ich sogar Hundefutter essen.

Apropos Hund, als wir in der Küche ankommen, steht da plötzlich ein großer Hund vor mir und wedelt mit dem Schwanz. Erschrocken weiche ich zurück. Noch nie in meinem Lebe stand ich so nah vor einem Hund, erst recht nicht ohne Schutz.

"Das ist Bello, ich hoffe du hast keine Angst vor Hunden? Er tut dir nichts. Komm mal her und lass ihn mal schnüffeln."

Habe ich denn Angst vor Hunden? Angelina nimmt meine Hand in ihre und geht mit mir langsam auf ihn zu. Er schaut mich mit seinen treuen Augen an und setzt sich hin. Seine großen Kulleraugen geben mir den Mut, meine Hand ein wenig auszustrecken. Kurz schnuppert er, doch dann schleckt er meine gesamte hand ab. Lächelnd schaue ich zu Angelina, die auch breit grinst und mir versichert: "Er mag dich."

Ich glaube, ich fühle mich hier wenn ich länger bleiben sollte viel zu wohl. Vorsichtig streichle ich ich über den Kopf, anschließend wasche ich mir die Hände und decke unter Angelinas Anleitung den Tisch, während sie kocht und ich faszinierend zuschaue.

Als das Mittagessen fertig ist, ruft sie David und Marco, wie Herr Becker anscheinen mit Vornamen heißt.

Am Tisch sitze ich neben David und gegenüber von seiner Mutter. Sie sieht total sympathisch aus. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich sie auch als Mutter haben wollen...

"Hope, wie lange möchtest du gerne bei uns bleiben?", fragt mich Herr Becker plötzlich.

Für immer? Ne Spaß, nicht lange. Ich möchte hier nicht stören und auch keine Last sein.

"Ich weiß nicht, nicht so lange, ich wollte auch eigentlich gar nicht hier reinplatzen..."

"Ich glaube, wir sollten uns nach dem Essen mal zusammen setzen und nach einer Lösung suchen... Was haltet ihr davon?"

Als seine Frau zustimmt, ist die Sache gebacken. Aber wie sollen wir denn ein Lösung feinden? Ich muss reden, das wäre die Lösung. Aber bis ich bereit dazu bin, kann ich nicht hier bleiben. Ich weiß nicht... Ich werde mal schauen, was bei dem Gespräch gleich heraus kommt.

Herr Becker ist ein unglaublicher Familienmensch.. Kein Wunder, dass er sich immer so um seine Schüler kümmert, er hat ein gutes Herz. Ok das hat sich jetzt komisch angehört. Aber ich bin sehr froh, dass ich ihn kennengelernt habe. Als Lehrer natürlich. Abereigentlihc sehe ich ihn gar nicht mehr nur als Lehrer. Auch, wenn es extra komisch ist, bei ihm zu Hause zu sein, ist es nicht schlimm-komisch, sondern gut-komisch.

Manchmal, wenn ich ihn anschaue, das wünsche ich mir sogar, dass er mithilft. Aber wenn er mich nochmal ansprechen würde, dann könnte ich doch sowieso meinen blöden Mund nicht aufmachen. So sehr ich es mir auch wünsche. Und ich weiß nicht, wie ich das ändern kann.

Gefangen im eigenen zu HauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt