Kapitel 10: Alles holt dich wieder ein

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Im Laufe des Tages fing es an zu regnen. Normalerweise kein Problem, aber wenn man weder W-Lan noch irgendeine Konsole hatte wird einem erst bewusst wie lange so ein Tag sein kann. Vor allem wenn es viel zum drüber nachdenken gibt. Nachdem sie zurück waren hatte Tobi Stegi gleich weggezogen und ihn gefragt, was passiert ist. Doch so richtig antworten konnte er ihm auch nicht. Er sah das Kissen auf dem Fensterbrett und konnte sich nicht vorstellen, dass er da jemals drauf gepasst haben sollte. Aber Tobi meinte, dass es sogar viel zu groß gewesen sei. Unvorstellbar. Wenn so etwas möglich ist, ohne dass die Menschheit jemals davon erfahren hat, woran soll man dann überhaupt noch glauben? Er hatte am Strand sogar kurz nach der Muschel gesucht, sie aber nirgendwo mehr gefunden. Es war wie, als wollte er jeden Beweis festhalten, dass er sich das alles nicht nur eingebildet hatte.

Vor Langeweile suchte er dann nach Tim. Er lag draußen auf der überdachten Veranda in einer Holzliege und blickte gegen die Decke. Er lag oft so da, egal ob während der Mittagspause an der Uni oder im Sommer im Gras. Stegi kannte das schon gut von ihm, doch selten war er dabei so in Gedanken versunken.

„Ist dir gar nicht kalt hier draußen?"

Der Regen prasselte immer noch seitlich an dem Gestell herunter, aber das Geräusch auf dem Holz war beruhigend.

„Ach, du bist es. Ne, ist ja nur ein bisschen Regen."

„Verstehe"

Ohne nachzufragen nahm er eine der anderen Liegen, schob sie neben die von Tim und lege sich darauf.

„Worüber denkst du denn so angestrengt nach?"

„Wie kommst du darauf? Ich hab doch garnicht-„

„Ja, ja. Also?"

Er seufzte kurz:

„Irgendwie hatte ich mir diese Reise anders vorgestellt".

„Ach so, sorry"

„Nein, nein, nicht wegen dir! Sondern wegen dem was danach kommt. Versteh mich nicht falsch, wir haben die Sachen gemacht, die ich machen wollte, hatten Spaß und so weiter, aber irgendwas fehlt".

„Ist es dir nicht aufregend genug?"

„Nein, nein. Es ist nur, wir hatten viel zu tun in letzter Zeit mit der Uni und haben selten miteinander geredet. Ich hatte gehofft, dass wir hier wieder etwas häufiger miteinander Zeit verbringen, aber irgendwie macht jeder sein eigenes Ding".

~ Also doch. ~

Tim sah zu ihm herüber. Hatte er das jetzt falsch ausgedrückt? Der Wind pfiff unter der Überdachung durch und er sah, dass sein Freund leicht zitterte, was er natürlich nie selbst zugeben würde. Er schaute kurz Richtung Tür, um zu sehen, ob Tobi immer noch am PC war, dann rutschte er rüber auf die andere Liege, mit den Worten:

„Man, sag doch einfach, wenn dir kalt ist", und nahm ihn in den Arm.

Eine Antwort erhielt er nicht, aber auch keine Abweisung. Nachdem sie ein bisschen so dagelegen waren, sagte Stegi:

„Ich weiß was du meinst. Manchmal sind halt die Umstände schwierig. Ich würde auch gern ... öfters ... bei dir sein".

So, jetzt hatte er es gesagt. Scheiß drauf.

„Ok, kein Problem"

Dieser einfache und simple Moment war es alles wert gewesen. Stegi wollte gar nicht mehr zurück. Nicht mehr zurück nach Deutschland. Warum konnten sie nicht einfach hier bleiben? Zuhause war es eh nur stressig. Einfach irgendwo verkriechen, wo sie niemand mehr findet.

×

Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es ihn.

Ein Gefühl. Stegi erkannte es augenblicklich. Nicht jetzt! Nicht hier! Das konnte doch gar nicht sein. Es war alles wieder da, als wäre es immer präsent gewesen. Er wich ruckartig von Tim's Körper zurück, was dieser natürlich sofort bemerkte. Er blickte auf und sah in das Gesicht seines Gegenübers. Dieser hielt mit seinen Armen krampfhaft den Bauch umschlungen.

„Was ist los?"

Die Frage ignorierend sprang Stegi auf: „Ich muss weg".

„Wie weg? Stegi, was ist los? Du hast doch irgendwas."

„Ich kann jetzt nicht reden, Tim. Es tut mir leid."

Er ging Richtung Tür, wieder zurück in die Wohnung. Wo sollte er hin? Tim würde ihm auf jeden Fall folgen. Sich hastig um-suchend kam er im Wohnzimmer an. Es würde jeden Moment passieren. Wieso fiel ihm genau in solchen Situationen nie etwas ein? Erst mal weg.

„Ist es wegen dem was ich gesagt hab? Du kannst mit mir doch über alles reden."

Er bemerkte, wie Tim ihn plötzlich am Handgelenk festhielt. Falscher Zeitpunkt!

„Nein Tim, das ist es nicht. Es tut mir Leid."

Stegi wollte sich losschütteln, doch Tim ließ es nicht zu.

„Vertraust du mir wirklich so wenig?"

Bei diesen Worten hielt er inne. Sie waren scharf wie ein Messer. Vertraute er ihm? Natürlich! Aber würde er ihn auch akzeptieren? Ihn abweisen? Er sah ihn an. Dieser besorgte Blick nahm ihm sämtliche Kräfte. Tim musste doch das Zittern von seinem Arm spüren.

„Ich mach mir doch Sorgen", Tim's Stimme brach ab bei der Hälfte des Satzes ein wenig. Der Punkt war erreicht Stegi musste sich jetzt entscheiden. Er dachte an das Kommende, malte sich die schlimmsten Reaktionen aus. Dann dachte er einen Moment an Tim's Art, seinen Charakter, wie er sich jetzt fühlen musste. Er brauchte doch Tim auch, seine Nähe. Wieder einige Stunden ohne ihn, zurück gezogen, das hielt er nicht aus.

Also gut.

Er entkrampfte sich etwas und zog den Großen Richtung Sofa. Er bedeutete ihm, sich hinzulegen und drückte ihn dann mit seinem Ellenbogen nach unten.

„Bitte verurteile mich nicht, wenn das nicht zu viel verlangt ist".

Tim ließ still alles mit sich machen und war etwas verdutzt als der zitternde Stegi sich auf ihn legte. Dieser vergrub sein Gesicht in Tim's T-Shirt. Er konnte ihn jetzt nicht mehr ansehen, doch sein gleichmäßiger Atem beruhigte ihn etwas. Er krallte sich mit einer Hand in Tim's T-Shirt, dann ließ er innerlich los.

Große Gefühle für ein kleines Herz - StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt