Geisterstunde

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An Schlaf war jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Daher hatte ich in den letzten Sekunden beschlossen nun doch noch mein kleines Abenteuer zu starten. Stille lag über dem Camp, und um sicher zu gehen, dass mir niemand folgen würde, sah ich mich noch einmal verstohlen um. Dann machte ich mich auf den Weg zum Schloss.
Da es der Zufall wollte, dass heute Nacht Vollmond war, konnte ich meine LED-Minitaschenlampe getrost stecken lassen. So lief ich auch weniger Gefahr entdeckt zu werden. Ein paar Mal hörte ich unterwegs ein Rascheln im Gebüsch - vermutlich irgendwelche wilden Tiere. Trotzdem bekam ich jedes Mal beinahe einen Herzinfarkt.
Aber da mein Herzschlag sowieso schon seit dem Kino von unten gegen meine Gurgel pochte, machte das dann ja auch keinen großen Unterschied mehr. Das Schloss war von einer Mauer umgeben, aber an einer Stelle war mir gestern bei meinem Spaziergang eine schmale Gittertür aufgefallen. Wenn sie heute immer noch offen stand, war das mein Durchgang. Nach kurzer Zeit hatte ich die Tür gefunden und zu meiner Freude festgestellt, dass sie noch niemand abgeschlossen hatte.
Vorsichtig schob ich sie auf und streckte den Kopf in den Schlosshof. Dann ging ich hindurch. Es war wunderschön hier und der Mond ließ alles in einem zauberhaften Licht erscheinen. Nachdem ich mich ein wenig umgesehen hatte, wollte ich versuchen ins Schloss zu kommen.
Wieder raschelte es hinter mir. Als ich mich umdrehte, hätte mich fast der Schlag getroffen. Vor mir stand Gideon. Wieso hatte er mir nur so unbemerkt folgen können? Hatte er eine Ausbildung im Anschleichen gemacht?
"Was zur Hölle hast du hier zu suchen?" fragte er mit einem gefährlich zischendem Unterton in der Stimme. Ich konnte ihn nur ertappt anstarren.
"Dasselbe könnte ich dich fragen. Wieso bist du mir gefolgt?"
"Ich wollte sicher gehen, dass dir nichts passiert. Offensichtlich kann man dich keinen Moment aus den Augen lassen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet." Er sah mich auffordernd an. Ich seufzte.
"Ich wollte mir nur mal in aller Ruhe das Schloss genauer ansehen." Er hob eine Augenbraue.
"Mitten in der Nacht?" Okay, jetzt war ich in Erklärungsnot.
"Na ja, ich konnte nicht schlafen..." Jetzt begannen seine Augen zu funkeln.
"Was du nicht sagst. Und wieso nicht?"
In diesem Moment schlug die Turmuhr zwölf und ich erschrak fürchterlich als das Wasser in dem Brunnen neben dem wir standen, plötzlich zu sprudeln anfing. Gideon wirbelte mich herum, schlang von hinten die Arme um mich und zog mich beschützend an sich. Kollektives Herzklopfen.
Ich traute meinen Augen nicht: Im Wasser erschien eine Lichtgestalt in Form eines jungen Mädchens. Soweit das zu erkennen war, trug sie ein langes Kleid, das einem vergangenen Jahrhundert angehörte. Auch ihre Frisur schien aus derselben Epoche.
Gideons Griff verstärkte sich. Bis zu diesem Moment war ich mir nicht sicher gewesen, ob er das gleiche sah wie ich oder ob mir mein Gehirn einen Streich spielte.
Das Mädchen sprach zu uns. Sie bewegte zwar den Mund nicht, aber man konnte ihre Stimme hören. Es schien auch irgendwie keinen Zweifel daran zu geben, dass sie unsere Gedanken lesen konnte, denn sie beantwortete all unsere Fragen ohne dass wir sie gestellt hätten.
Sie stellte sich vor als Elisabetha und erklärte uns, dass sie nur erschien, wenn zwei Menschen, die eine besondere seelische Verbindung miteinander hatten, alleine hier vor ihren Brunnen kamen. Diesem Paar würde sie dann ein ganz besonderes Geschenk machen.
Sie sagte, wir sollten in zwei Wochen wiederkommen bei Neumond um Mitternacht, damit sie prüfen könne, ob sie uns dieses Geschenk auch geben könne, weil beim letzten Mal anscheinend etwas schiefgelaufen war. Dann verschwand sie.
Ich drehte mich zu Gideon um und sah ihn fragend an.
"Habe ich mir das eben eingebildet?" Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Seine Hände zitterten leicht.
"Nein, ich habe es auch gesehen..."
"Und hast du es auch gehört?" Er nickte. Also musste es wahr sein.
Noch eine Weile starrten wir schweigend auf das Wasser im Brunnen, das nun wieder friedlich und still im Mondlicht glitzerte. Dann zog mich Gideon langsam davon und ging mit mir zurück zum Camp. Den ganzen Weg legten wir schweigend zurück. Als wir vor meiner Unterkunft standen, zog er mich wieder vorsichtig in eine Umarmung und flüsterte an mein Ohr:
"Wir reden nächste Woche darüber, okay? Und jetzt schlaf gut, Gwenny." Ich hauchte ein leises 'ja'. Er drückte mich kurz und wartete bis ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, als wolle er sicher gehen, dass ich diesmal auch wirklich ins Bett ging.
Im Bad zog ich mich leise um und schlich mich ins Bett, wo ich merkwürdiger Weise sofort in einen erholsamen Schlaf sank.

Und einmal Ferienlager...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt