Der Gang nach Kanossa

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Während des Abendessens versuchte ich Gideon auszumachen. Aber ich konnte ihn nirgends entdecken.
"Suchst du was bestimmtes?" Mist. Raphael hatte meine umherschweifenden Blicke bemerkt. Dabei hatte ich extra darauf geachtet es nicht so auffällig zu machen.
"Nein, eigentlich nicht. Ich hab nur mal geschaut, wer so alles hier ist."
"Also falls du Gideon suchst, der ist nicht hier." Wie bitte? Waren meine Gedanken irgendwie mit einem Beamer vernetzt?
"Wie kommst du darauf, dass ich Gideon suche?" Raph grinste. Irgendwie benahm er sich manchmal total merkwürdig.
"Ich dachte nur, du wolltest dich vielleicht noch bei deinem Retter bedanken." Erwischt!
"Jetzt, wo du es sagst... Wo ist er denn?"
"Soviel ich weiß hat sich Tina vorhin den Knöchel verstaucht und ist mit ihm im Sani-Raum verschwunden." Richtig. Dass Tina auch fehlte, war mir irgendwie entgangen. Also wenn die beiden jetzt im Sani-Raum waren, hatte sich das mit dem Gespräch nachher erledigt. Ich würde mich zwar noch bei Gideon bedanken, doch das hatte bis morgen Zeit. Und außer einem Dankeschön würde ich nichts mehr weiter zu ihm sagen...
"Gideon macht ihr nur Eisspray auf den Knöchel und einen Stützverband."
"Ich wüsste nicht, was mich das angehen sollte." Schon wieder dieses blöde Grinsen.
"Ja, schon klar. Also ich sag ihm nachher, dass du dich noch bei ihm bedanken möchtest." Wie frech war das denn?
"Das wirst du nicht tun! Ich bin alt genug, um selber zu entscheiden, wann ich mich mit wem unterhalte."
"Aber manchmal brauchen wir alle mal einen kleinen Tritt in den Hintern. Und wenn du dich vor dem Schlafengehen noch nicht bei Gid bedankt hast, wird es für ihn aussehen wie eine Beleidigung." Angesichts von Gideons Verhalten in der Vergangenheit hätte er aber eigentlich genau das verdient. Allerdings hatte ich den dummen Verdacht, dass Raphael mich so lange nerven würde, bis ich die Sache hinter mich gebracht hatte. Also gab ich mich geschlagen. Ich fragte mich nur, warum es ihm so wichtig war, wie ich mich Gideon gegenüber verhielt.
"Du gibst ja eh keine Ruhe, bis du deinen Willen hast. Also tu was du nicht lassen kannst." Mit einem triumphierenden Grinsen sah er zu Leslie rüber. Hatten die beiden etwa über mich geredet? Das war ja wohl die Höhe!
"Also ich gebe Gid Bescheid, dass du nachher noch in seinem Zimmer vorbei schaust." Ich seufzte genervt.
"So wie es aussieht, bleibt mir heute wohl nichts erspart." Raphael nickte nur und verschwand in Richtung Sani-Raum, während ich ihn mit meinen Gedanken von hinten ermordete. Und wieso musste er Gideon ausgerechnet sagen, dass ich zu ihm aufs Zimmer kommen würde? Ich wollte nicht in Gideons Zimmer.
Zuerst mal würde ich in mein Zimmer gehen und warten bis Tina aufkreuzte, denn ich wollte die beiden auf keinen Fall in welcher Situation auch immer zusammen sehen. Um die Zeit zu überbrücken, sprang ich noch kurz unter die Dusche. Ich weiß nicht, warum mich das Ganze so durcheinanderbrachte, aber um ehrlich zu sein war ich so aufgeregt, dass mir fast schlecht war. Das warme Wasser beruhigte meine Nerven schließlich, und als ich mich wieder angezogen hatte und die Dusche verließ, hörte ich von draußen Gekicher.
Eindeutig Tina. "Lass mich runter! Wenn das jemand sieht." Mir wurde wieder kurz übel und ich ging unwillkürlich einen Schritt zurück Richtung Bad. Dann ging die Tür auf und herein kam Jo - mit Tina auf den Armen! Und so schnell die Übelkeit kam, verschwand sie auch wieder. Die beiden hatten mich nicht bemerkt und verschwanden in Tinas und Sallys Zimmer. Arme Sally! So wie es aussah hatte es Tina faustdick hinter den Ohren.
Das war mir schon heute Nachmittag aufgefallen, bevor mich einer der Jungs mit dem Ruder k.o. geschlagen hatte...
Ach ja, richtig. - Da war ja noch was. Es hatte keinen Zweck es noch länger aufzuschieben. Raphael hatte mir vorhin, als er von Gideon zurückkam noch erklärt, wie ich zu seinem Zimmer kam. Also machte ich mich nun auf den Weg ins Verderben.
Ich stand schon ein, zwei Minuten vor Gideons Zimmer bis ich endlich den Mut fand anzuklopfen. Doch als ich gerade dazu ansetzte, öffnete sich die Tür und ein freundlich lächelnder Gideon stand mir gegenüber. Ertappt stoppte ich meine Bewegung.
"Hey Gwen! Willst du nicht reinkommen?"
"Hey." war alles was ich zustande brachte. Ohne meine Antwort abzuwarten griff er nach meiner Hand, zog mich in sein Zimmer und schloss die Tür.
"Setz dich doch." Es war als hätte mir jemand eine Käseglocke über mein Gehirn gestülpt. Also setzte ich mich tatsächlich auf sein Bett damit er meine wackligen Knie nicht bemerken sollte.
Reiß dich zusammen, Gwendolyn!
"Also, ich hab mich noch gar nicht so richtig bei dir bedankt für deine Hilfe ..." begann ich.
"Kaum der Rede wert." unterbrach er mich.
"Aber du hast mir das Leben gerettet!"
"Na ja, das hätte doch jeder in dieser Situation getan."
"Das glaube ich nicht. Jedenfalls bin ich dir sehr dankbar."
"Schon gut. Wenn du willst, kannst du dich ja bei Gelegenheit mal revanchieren." Wie war das? Ich glotzte ihn anscheinend voll dämlich an.
"Sollte nur ein kleiner Scherz sein." Für das was ich jetzt sagte muss ich meine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit verantwortlich machen.
"Also für eine Lebensrettungsaktion hättest du schon einen Wunsch bei mir frei."
Als ich das Strahlen in seinem Gesicht bemerkte ging mir auf, dass ich gerade einen ganz saublöden Fehler gemacht hatte. Und ich konnte ihn nicht mehr rückgängig machen. Am liebsten hätte ich mir dafür selber eine Ohrfeige verpasst.
"Wenn das so ist, lasse ich mir natürlich gerne was einfallen. " Als er mein erschrockenes Gesicht bemerkte, setzte er noch schnell hinzu: "Nichts schlimmes, natürlich." Und dass er sich daran natürlich nicht halten würde, war ja sowas von klar.
Ich wollte gerade aufstehen und gehen als er mich am Handgelenk packte.
"Warte!" Ich sah ihn fragend an.
"Was wolltest du mir sonst noch sagen?" Scheiße war das schwer! Ich konnte ihn doch jetzt nicht fragen, wieso er als ich aufgewacht war, noch ganze zwei Minuten halb auf mir lag und mein Gesicht festhielt. Und noch weniger konnte ich ihn fragen, ob er irgendwas für mich empfand und was das war.
"Du bist doch nicht nur gekommen, um dich zu bedanken?" Verdammt, wieso ließ er nicht locker?
"Hab ich vergessen." Das glaubte ich mir ja selber nicht. Er auch nicht. Aber er ließ mich gehen, und das war im Moment das Wichtigste. Als ich gerade dabei war die Tür zu schließen rief er mir nach:
"Gwen?" Ich fror meine Bewegung einen Moment ein aber ansehen konnte ich ihn jetzt nicht.
"Sag mir Bescheid, wenn's dir wieder einfällt." Ich nickte. Damit schloss ich die Tür und wandelte wie ein Zombie in mein Schlafgemach.
Meine Nacht bestand aus einem Gedanken-Karussell aus grünen Augen, weichen Lippen, sanftem Geflüster, diesem bestimmten Geruch und dem Shakespeare-Bruchstück (. .. mein Leben liegt in meines Feindes Hand...). Folglich tat ich kein Auge zu, und als der Morgen kam, hatte mein Gehirn drei Dinge klargestellt:
erstens: ich hatte mich gestern in Gideons Zimmer voll blamiert,
zweitens: ich war absolut rettungslos in ihn verliebt
und
drittens: ich würde es Gideon erst sagen, wenn die Hölle zufriert.
Verdammte Scheiße!

Und einmal Ferienlager...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt