Feindliche Übergriffe

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"Gideon de Villiers, lass dir eins gesagt sein: Du bist der mieseste Kotzbrocken der ganzen Schule. Und ich würde noch nicht mal was mit dir anfangen, wenn mir jemand drei Millionen dafür zahlen würde!" fauchte ich ihn an. Wie ich jetzt ausgerechnet auf drei Millionen kam, weiß ich auch nicht, aber egal.
Jedenfalls fiel ihm nichts besseres darauf ein als mich blöd anzugrinsen. Depp. Der allseits beliebte 'Mädchenschwarm' alias Kotzbrocken-Gideon hatte gerade mal wieder einen seiner anzüglichen Sprüche auf mich abgefeuert. Und leider schienen meine giftigen Retourkutschen ihn nicht im mindesten zu beeindrucken. In solchen Situationen hätte ich ihm am liebsten eine geklebt, aber dabei wäre Körperkontakt entstanden - und den wollte ich aus verschiedenen Gründen vermeiden.
Also drehte ich mich einfach um und machte mich auf den Weg zu meinem Spind, um meine Bücher für Geschichte und Englisch zu holen.
Plötzlich flüsterte mir eine heisere Stimme (seine Stimme!) ins Ohr:
"Schätzchen, wenn ich wollte, dass du mit mir was anfängst, würde mir was besseres einfallen als drei Millionen..."
Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich fuhr herum, was eine ganz blöde Idee war. Jetzt stand er auf einmal viel zu nah vor mir und hypnotisierte mich - so ungern ich es zugebe - mit seinen phantastischen großen grünen Augen, in denen in diesem Moment auch noch ein gefährliches Funkeln aufblitzte.
Wenn ich jetzt nicht ganz schnell auf Abstand ging, war für nichts mehr zu garantieren. Also wich ich zur Seite, aber leider machte mir Gideon einen Strich durch die Rechnung, indem er rechts und links neben meiner Taille seine Hände an den Spinden abstützte und ich somit in der Falle saß.
"Lass den Blödsinn, de Villiers!"
"Und wenn nicht, de Villiers?" Ich hasse es, dass wir verwandt sind. Wenn auch nur um fünf Ecken rum. Unsere Urururgroßväter waren Zwillingsbrüder. Daher also diese Scheiße mit der Namensgleichheit.
Wie dem auch sei - ich stand nun eingekastelt von meinem Namensvetter - dem Weiberheld Gideon - mit dem Rücken an den Spinden in der unangenehmsten Situation, die man sich vorstellen kann, und wusste nicht wie ich mich daraus befreien sollte. Zu allem Überfluss schien er mich noch nicht genug gedemütigt zu haben, denn sein Gesicht kam immer näher. Er wollte doch nicht etwa ...?! Bevor ich noch weiter nachdenken konnte, hatte meine Hand sich in einem Ansturm von Panik selbständig gemacht und landete in einer schallenden Ohrfeige auf seiner Wange. Er sah mich verdutzt an, zog reflexartig seine Hände zurück und bot mir so die Chance zur Flucht, die ich sofort ergriff.
Ich taumelte einige Schritte zur Seite und schüttelte mich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Als ich meine Sprache wiedergefunden hatte, rief ich ihm spöttisch zu:
"Träum weiter!"
Dann rauschte ich eilig davon in mein Klassenzimmer ohne mich noch einmal umzudrehen.
Dort angekommen begann der Englischunterricht. Heute sahen wir uns einen Film über Romeo und Julia an. Typisch Withman, der uns ständig mit Shakespeare quälte.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass meine Konzentration unter dem Vorfall in der Pause sehr gelitten hatte, und so schweiften meine Gedanken immer wieder in die vergangenen Ereignisse mit Gideon...

Als meine Eltern vor knapp drei Jahren nach London zurückgezogen sind, nachdem sie seit meiner Geburt in Manchester gewohnt hatten, war ich zum ersten Mal an der Saint Lennox High School. Es fiel mir nicht leicht all meine Freunde und meine gewohnte Umgebung aufgeben zu müssen. Aber ich bin ja nicht groß gefragt worden.
Ich war 13 und alles war beschissen. Die erste Person, die mir begegnete, war Leslie Hay. Wir verstanden uns auf Anhieb. Hätte ich sie nicht gehabt, wäre mein Schulalltag viel schwerer zu ertragen gewesen.
Die anderen Bekanntschaften waren mehr oder weniger oberflächlich.
Als ich Gideon das erste Mal begegnete, bildete ich mir anfangs ein er sei nett und entgegenkommend gewesen. Aber da in diesem Moment mein ganzes Leben wie ein Kartenhaus eingestürzt war, blieb ich in einer Art Reserveposition. Ich hatte eine unsichtbare Schutzmauer um mich errichtet.
Er war ein Fremder, und da er schon damals höllisch gut aussah, war ich sehr misstrauisch, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass er ein ehrliches Interesse an mir haben könnte. Es stellte sich schnell heraus, dass ich recht hatte.
Schon nach kurzer Zeit fing Gideon an ein reges Interesse an Knutschaffairen zu entwickeln. Und was mich besonders ärgerte war, dass er sich dabei - wie durch Zufall - immer in meiner Nähe aufhielt, wenn er mit einem Mädchen rummachte. Außerdem fing er an mich mit irgendwelchen anzüglichen Bemerkungen zu provozieren. Meist ignorierte ich ihn einfach, aber manchmal trieb er es so auf die Spitze, dass mir ein giftiger Kommentar herausrutschte.
Zu meinem Leidwesen schienen ihm diese Retourkutschen nicht das geringste auszumachen - im Gegenteil: ich hatte sogar den Eindruck, dass ich ihm damit noch die Steilvorlagen lieferte, auf die er gewartet hatte...



>Sie ist eine Capulet? O teurer Preis! Mein Leben liegt in meines Feindes Hand.< ...

Die letzten Szenen vor der Pause holten mich wieder in die Realität zurück. Nachher würde ich mit Leslie über den diesjährigen Aufenthalt im Feriencamp meines Onkels sprechen. Falk hatte die Ferienanlage eigentlich als Anlageobjekt zu einem günstigen Preis gekauft. Und er hatte einen guten Riecher bei der Personalauswahl gehabt und einen Manager eingestellt, der binnen zwei Jahren eine Goldgrube aus der Anlage gemacht hatte.
Und da meine Eltern - Lucy und Paul - in den Sommerferien auf Geschäftsreise in den USA sein würden, hatten sie beschlossen, dass ich für diese Zeit in Onkel Falks Ferienanlage gut aufgehoben sei. Also musste ich dafür sorgen, dass Leslie mich begleitete.
"Es geht also am 1.Juli los und dauert vier Wochen?"
"Sag mir bitte dass du noch nichts anderes vor hast, Les. Du musst unbedingt dabei sein."
"Klar komme ich mit. Ich lasse doch meine beste Freundin nicht allein in einem Feriencamp versauern. "
"Danke. Du bist echt die beste, Leslie. Ich werde auch mal Onkel Falk fragen, wie viel er dir im Preis nachlassen kann. Wenn ich ihn auf der richtigen Spur erwische, kann er mir kaum was abschlagen. "
"Scheint so als wüsstest du wie man ihn um den kleinen Finger wickelt."
"Ja sieht fast so aus..."
"Du scheinst ja sehr überzeugt von deinen Verführungskünsten..." raunte mir Gideon ins Ohr. GIDEON! Ich erschrak fürchterlich was Gideon sichtlich zu amüsieren schien. Kotzbrocken!
"Hat dir die Ohrfeige vorhin nicht gereicht?" Leslies Augen weiteten sich.
"Ach Schätzchen, du weißt doch, wie unterhaltsam ich deine Annäherungsversuche immer finde."
"Du hast doch einen Sprung in der Schüssel! Hau bloß ab!"
Mit einem siegessicheren Grinsen zog er ab. Leslie nagelte mich mit einem fragenden Blick fest.
"Was war das denn gerade?"
"Er hält sich für unwiderstehlich. Dabei ist er eher unausstehlich."
"Und wofür hat er die Ohrfeige kassiert?"
"Gideon war der Meinung, er müsste mich mit seinen Armen an den Spinden unter Arrest stellen und mir eine Mund-zu-Mund-Beatmung verpassen."
"Er hat dich geküsst?!" Leslie musste schmunzeln.
"Kein Grund dem irgendeine Bedeutung beizumessen. Aber nein: bevor er mir zu nahe kam, hab ich ihm eine gescheuert."
"Er ist in dich verliebt."
"Red keinen Unsinn!"
"Doch ist er. Er verfolgt dich, funkelt dich an, flüstert dir Sachen ins Ohr und provoziert dich. Außerdem beobachtet er dich, wenn er denkt, dass du es nicht siehst. Und wenn ein anderer Junge in deiner Nähe ist, kriegt er so einen seltsam verärgerten Gesichtsausdruck. Glaub mir - ich kenne diese Symptome..."
"Ist doch Quatsch mit Soße! Er will mich nur ärgern, um sein angekratztes Ego aufzuwerten. Ich kenne seine Spielchen. Er hat nicht das geringste Interesse an mir. Und das ist auch besser so."
"Wenn du meinst..."
"Ja. das meine ich. Und jetzt Schluss damit. Wir haben Wichtigeres zu besprechen. Also wir treffen uns bei Onkel Falk am 1.Juli morgens um 8h30. Er fährt uns dann ins Camp und holt uns am 28. um 16h00 wieder ab. Ich hab dir eine Kopie der Liste mitgebracht, die er mir gegeben hat. Darauf steht alles, was du unbedingt einpacken solltest."
"Okay, danke."
Leslie sah die Liste kurz durch, nickte und schob sie ein. Und nach der Pause folterte uns Withman mit dem Rest von Romeo und Julia.

Und einmal Ferienlager...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt