Die Schlossführung

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Wir drei saßen noch in unserem Zimmer. Les und Raph hatten bereits eine hitzige Diskussion begonnen. Les begann alles in Frage zu stellen und haarklein auseinander zu nehmen. Am meisten störte sie sich an dem Punkt mit der Unfruchtbarkeit. Sie hatte Raph vorgehalten, dass sie ja schließlich jetzt noch nicht wissen konnte, ob sie mal Kinder will.
"Wozu willst du eigentlich unbedingt Kinder? Du hast doch dann mich."
Das brachte sowohl Les als auch mich zum Schmunzeln. In der Tat war Raphael manchmal noch wie ein Lausebengel. Jedenfalls schien ihm die Idee unsterblich zu sein schon ganz gut zu gefallen.
"Ich sage ja nicht, dass ich unbedingt welche will. Aber dass ich mich jetzt schon für alle Zeiten festlegen soll, finde ich schon etwas überstürzt."
"Komm schon, Les. Was denkst du wie viele Gelegenheiten wie diese sich dir noch bieten werden? Willst du lieber alt werden und irgendwann sterben? Du musst zugeben, dass die Sache wesentlich mehr Vorteile als Nachteile hat. " Er setzte ein spöttisches Grinsen auf.
"Und dafür, dass du dann für immer mit so einem tollen Kerl wie mir ein gesundes und glückliches Leben verbringen darfst, finde ich es nicht zu viel verlangt, ein oder zwei kleine Opfer zu bringen."
Leslie kniff ihm gespielt empört in die Seite. Er wich lachend zurück.
"Außerdem: wo kämen wir hin, wenn jeder der ewig lebt zur Überbevölkerung beitragen, wild durch die Gegend vögeln oder zum Gewaltverbrecher mutieren dürfte? Ich meine du musst zugeben, dass die Regeln doch eigentlich ganz vernünftig sind."
Les schienen die Argumente auszugehen.
"Also ich würde es ohne mit der Wimper zu zucken machen, aber wenn du natürlich nicht für immer mit mir zusammen sein willst..." meinte Raph schulterzuckend und sah Les mit einem unwiderstehlichen Lächeln an. Les stöhnte.
"Herrgott, ja! Aber nur, wenn Gwen und Gid es auch machen."
Na toll! Jetzt waren wir für ihre Entscheidung verantwortlich. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Les sich über Nacht Bedenkzeit lässt, aber sie konnte wohl Raphs Überredungskünsten nicht mehr länger widerstehen. Schlaues Kerlchen!
Die Sache mit der Unfruchtbarkeit hätte mich jetzt gar nicht weiter gestört, denn eigentlich war ich nie so besonders scharf aufs Kinderkriegen gewesen. Klar konnten die süß sein, aber eben doch auch recht nervig und zeitaufwändig, ganz zu schweigen von dem Mist mit der Schwangerschaft und der Geburt.
Dafür warf sich mir aber eine ganz andere Frage auf: Wollte ich wirklich mit Gideon, dem Ex-Kotzbrocken die Ewigkeit verbringen? Ich meine, derzeit war ich rasend verknallt in ihn, aber würde das auch so bleiben? Was wenn wir uns später total hassten? (An die Gurgel gehen war ja ausgeschlossen) Wenn mir noch vor zwei Wochen jemand gesagt hätte, dass ich mit Gideon de Villiers eine Beziehung anfangen würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt.
Ich musste mir das definitiv nochmal durch den Kopf gehen lassen... Und ich musste es heute nach dem Abendessen mit Gid besprechen.

Das Schloss war wunderschön, aber es wirkte anders bei Tageslicht. In der Vollmondnacht als ich mit Gid dort war hatte es einen ganz eigenen Zauber. Nun sah es einfach nur majestätisch und beeindruckend aus wie aus einem Disney-Film ausgeschnitten.
Es war eigentlich ein heißer Sommertag, aber als wir das Portal durchschritten stellten wir zu unserem Leidwesen fest, dass wir uns alle etwas zum überziehen hätten mitnehmen sollen. Die dicken Schlossmauern hielten die meiste Wärme draußen, und das wenige was die Mauern durchgelassen hatten verschwand im oberen Drittel der sehr hohen Räume. Also war es arschkalt, und deshalb beschlossen Les und ich, dass Raphael für uns beide als mobiler Heizkörper herhalten musste weil er am meisten Wärme abstrahlte.
Er grinste nur als er unseren Vorschlag hörte und schlang sofort jeder von uns einen Arm um die Taille. So war das schon besser. Raphaels Umarmung war mir durchaus angenehm, aber sie war rein freundschaftlich und löste in mir nicht im entferntesten die Gefühle aus wie bei Gideon.
Raphael hatte schlauerweise ein Polo-Shirt mit einer Brusttasche angezogen, in der er sein Handy so platzierte, dass die Kamera oben herausragte, und wir somit die komplette Schlossführung als Video hatten, ohne dass es jemand merkte.
Grace war unsere Schlossführerin. Sie war wirklich gut darin und sie kannte sich natürlich bestens im Schloss aus und konnte jede Frage dazu beantworten, aber als ich sie auf die ursprünglichen Schlosseigentümer und deren Verbleib ansprach, wich sie mir geschickt aus indem sie meinte:
"Das ist eines der größten Geheimnisse, das bis heute noch nicht gelüftet wurde."
Sehr schlau!
Die Räume waren wunderschön und mit eleganten Antiquitäten möbliert, die alle mindestens 200 Jahre auf dem Buckel haben mussten. Und dennoch waren sie so gut erhalten, als wären sie erst gestern gekauft worden. Die Wände zierten Stofftapeten und große Gemälde - fast ausnahmslos Portraits.
Ganz unten gab es einen riesigen Gewölbekeller und ein Verließ mit einer Gittertür. Gruselig. Als ich sah, dass es sich nicht um eine Folterkammer handelte, atmete ich erleichtert auf.
Raphael konnte sich natürlich nicht den Spruch mit der Ausnüchterungszelle verkneifen, und als er Les die Augen rollen sah meinte er nur:
"Was denn? Ist dir der Weinkeller nebenan nicht aufgefallen? Der reicht doch wohl für eine Sauf-Orgie."
Überraschender Weise gab Grace zu, dass sie und Will zusammen mit einem kleinen Personalstab im Schloss wohnten. Also doch!
Raphael hatte von Les den Auftrag erhalten vorzeitig in den Schlossvorhof zu verschwinden um auszuprobieren, ob die Signale der Handys durchkamen. Telefonieren konnte man schon mal vergessen, aber SMS gingen mit einigen Sekunden Verzögerung durch.
Als alle wieder nach draußen gingen hielt mich plötzlich jemand am Arm zurück. Grace! Überrascht drehte ich mich zu ihr um.
"Habt ihr euch schon entschieden?" Jetzt stand ich da wie vom Blitz abgeschossen.
"Du weißt davon?" Sie lächelte verschmitzt.
"Klar, was dachtest du denn? Also ich hoffe ihr macht es, denn Will und ich mögen euch vier wirklich sehr, und wir würden es sehr schade finden, wenn ihr euch uns nicht anschließt." Ich schaute sie kolossal dämlich an.
"Was meinst du mit anschließen?"
"Na dem Club der Unsterblichen. Ihr geht keinerlei Verpflichtungen ein, aber wenn ihr es Will und mir erlaubt, werden wir euch gerne hin und wieder besuchen. Und auch beraten falls ihr Fragen habt. Wir kennen inzwischen schon ein paar gute Tricks wie man Unannehmlichkeiten vermeidet."
Die Aussage von Grace traf mich wie ein Knüppel auf den Kopf. Es war also alles wahr? Und ich hatte erst gedacht, das alles sei nur ein bescheuerter Witz.
"Ich kann dir noch nicht sagen, ob wir es machen. Wir wollen uns die Sache noch mal durch den Kopf gehen lassen..."
"Das kann ich sehr gut verstehen. Aber ich würde dir auch gerne die Angst nehmen. Für mich war die Entscheidung für ein unsterbliches Leben die beste die ich je getroffen habe. Ich hab es nie bereut. Es hat viel mehr Vorteile als Nachteile. Dafür lohnt es sich wirklich die paar kleinen Einschränkungen in Kauf zu nehmen."
Jetzt klang sie schon wie Raph. Hatten die sich etwa abgesprochen?
"Gut. Wir überlegen es uns. Also wir sehen uns dann..." Sie nickte.
Damit verschwand ich nach draußen. Seltsam. Sehr seltsam...

Und einmal Ferienlager...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt