Kapitel 52

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• A L O N S O •
[Mehrere Monate später]

,, Alonso, ich muss dir was geben." Fragend sah ich meine mamà an. Sie war uns wie aus dem nichts vor ein paar Tagen besuchen gekommen, es war eine unglaubliche Überraschung meine Mutter nach Jahren wieder zu sehen.

Sie legte ihre Stirn in Falten und nahm einen alten Umschlag aus ihrer Tasche. Ihre Augen tränten plötzlich. Doch sie hielt die Tränen zurück, wie ein fester Damm und lächelte mich traurig an. Ich konnte nur Trauer und Verzweiflung in den Augen meiner Ma sehen.

,, Was ist los?" Ich hielt ihre Hand, doch sie zog sie zurück und schüttelte den Kopf.

,, Alonso, ich liebe dich. Ich liebe unsere ganze, zerbrochene Familie. Und ich weiß, dass i-ich dir ... Diesen verdammten ... Ich hätte ihn dir .. Diesen Brief ... ¡Mierda!" Ihre Hände zitterten. Tausende von Fragen gingen durch meinen Kopf, als ich diese Verzweiflung in ihr sah.

Ich legte den Umschlag zur Seite und nahm sie in den Arm.

,, Alonso, es gibt noch einen Grund, warum ich gekommen bin. Dieser Umschlag ... Dieser Brief. Er ist für dich. Dein Vater ... ", sie stockte kurz und schluckte. ,, Er hat ihn geschrieben. Für dich. Ich weiß, ich hätte ihn dir f-früher geben sollen, aber du warst nie bereit. Aber jetzt weiß ich, dass man dafür nie bereit sein kann." Sie stand plötzlich auf und ließ mich mit diesem Umschlag alleine.

Nervös blickte ich mich in dem Raum um, den ich mir mit Diego teilte. Es war ein  kleiner Raum, unsere Betten waren nur ungefähr zwei Meter voneinander entfernt, zusammen teilten wir uns auch eine Kommode mit einem Spiegel davor. Ich fuhr mir mit meiner Hand durch die Haare und seufzte. Was stand wohl in dem Brief? Schrieb er etwa davon, wie er wusste, dass er sterben würde? Dass ich auch Mitglied einer Gang werden sollte? Dass ich die Familie beschützen sollte?

Nun zitterten meine Hände ebenfalls, als ich nach dem Brief fasste und ihn mir nahm. In einer krakeligen Schrift  stand Alonso drauf. Mein Mund fühlte sich vollkommen trocken und mein Kopf verdammt leer an.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich langsam den Umschlag öffnete und mir sofort eine Kette in den Schoß fiel. Es war eine Silberne Kette mit goldener Dekoration.

Ich nahm die Blätter hinaus und sah die gleiche Schnellschrift, wie auf dem Umschlag. War ich bereit dafür? Konnte ich das wirklich lesen? War ich stark genug dafür?

Ich atmete tief ein und aus. Ich war nie bereut dafür. Ich konnte mir so viel Zeit wie möglich dafür lassen, doch bereit würde ich nie sein.

Für mein Kind, Alonso.
Verzeihe mir bitte alle meine dummen Fehler, mein Kind. Nehme dir kein Beispiel an mir, denn wir beide wissen, dass ich nie ein gutes Vorbild war. Und ich hoffe, dass du nie so wie ich wirst. Werde nie ein Gangmitglied, egal was sie dir sagen.

Ich fuhr mir mit der Hand über mein Gesicht und atmete tief ein und aus.

Dafür war es jetzt zu spät, papà.

Ich weiß, ich habe unsere Familie in Gefahr gebracht. Ich weiß, ich habe nie genug Geld verdient. Ich weiß, wir hatten nie viele Sachen. Und es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als eine gute Zukunft für euch. Ich weiß es, Alonso. Ich weiß, dass ich bald nicht mehr da sein werde. Und ich hoffe, ihr werdet nicht trauern. Um einen so schlechten Menschen wie mich darf man nicht trauern.

Ich hatte nie die Chance, dir nie zeigen zu können, wie man Fahrrad fährt. Ich war an deinem ersten Geburtstag nicht da und war nicht dabei, als du deine ersten Schritte gegangen bist. Ich war nicht an Weihnachten da oder als du deinen ersten Tag im Kindergarten hattest. Ich schäme mich dafür. Ich schäme mich so unglaublich dafür und habe jeden Tag gebetet, dass irgendwann alles besser wird. Sie sagen, Männer dürfen nicht weinen. Doch ich habe mehr Tränen vergossen als jeder andere Mann.
Ich wollte dich immer zu einem guten Mann erziehen. Ich wollte, dass mein Sohn aus diesem Loch rauskam. Er sollte es schaffen, weil ich an ihn glaubte. Du hattest immer diesen Ehrgeiz, Alonso. Ehrgeiz und Mut. Du standest für deine Taten gerade und hast deinen kleinen Bruder immer beschützt, als er mal wieder Mist gebaut hat.

Sag mir, wirst du deine Träume erfüllen? Wirst du das tun, was dir dein Herz sagt? Denn manchmal fühlt sich das richtige verdammt falsch an und das falsche einfach so richtig an.

Bist du glücklich? Wenn du nicht glücklich bist, frage dich, was dich so unglücklich macht, mein Junge. Das ist deine Chance, du kannst etwas verändern. Es ist dein Leben, mache dich glücklich. Sag mir, warum solltest du nicht glücklich sein? Warum solltest du nicht das Recht haben, glücklich zu sein? Du bist nur einmal jung, also sei nicht dumm. Das Leben, mein Sohn, ist zu kurz. Verschwende es nicht so wie ich.

Ich blinzelte ein paar Mal und ließ die Zettel achtlos auf den Boden fallen. In mir herrschte ein Chaos, ich war ein reiner Chaos. Langsam stand ich auf und ging vor den Spiegel.

Ich war wie er.

Ich war wie mein Vater. Ich war wie eine exakte Kopie von ihm, ich machte die gleichen Fehler und konnte nichts wirklich auf die Reihe kriegen. Alles verschiss ich, sei es mit meiner Familie, in der Schule oder mit Sam.

Die plötzliche Wut überkam mich. Ich wollte nicht so sein, wie er. Ich wollte es nicht. Ich konnte mir selbst nicht mehr in die Augen gucken, ich war Abschaum. Ich schloss meine Augen und ballte meine Hände zu Fäuste.

Für meine Mamá, für meine Brüder und für Sam war ich der reinste Abschaum.

Ich öffnete meine Augen wieder und schlug mit voller Wucht in den Spiegel hinein.

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