11. Kapitel

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Am frühen Nachmittag betrat Germán, verkleidet als Jeremías, das Studio. Den ganzen Morgen über hatte er noch einmal mit der Polizei und allen möglichen anderen Leuten sprechen müssen, aber es hatte sich gelohnt. Ab heute durfte Germán endlich wieder seiner Arbeit als Ingenieur nachgehen!

Zunächst wollte er nun endlich seine Stelle als Pianist kündigen. Er hatte es sich geschworen. Er hatte aus Esmeraldas Lüge gelernt. Germán hatte eingesehen, dass es falsch war, seine Tochter anzulügen, dass sie genauso verletzt sein würde, wie er es aktuell war, wenn sie davon erfuhr...

Der große Mann schlenderte langsam durch das Studio. Im Lehrerzimmer hatte er lediglich Beto angetroffen und der war ihm wirklich keine Hilfe, wenn es um seine Kündigung ging. Germán war auf der Suche nach Antonio oder wahlweise auch... Angies kleiner Freund... wie hieß er noch gleich? Pa-Paolo? Genau, Pablo! Pablo war sein Name!

Germán lief gerade suchend am Gesangsraum vorbei, als ihn eine bekannte Melodie und noch eine bekanntere Stimme innehalten ließ. Der große Mann blieb an der Tür stehen und lugte vorsichtig in den Raum. Angie stand auf der gegenüberliegenden Seite hinter dem Keyboard und hatte nun offenbar bereits einen Text für die erste Strophe ihres Liedes gefunden. Germán lehnte sich gegen den Türrahmen und hörte der blonden Frau verträumt zu. "You and I, we're friends from outer space, afraid to let go. The only two who understood this place. And as far as we know. We were way before our time, as bold as we were blind. Just another perfect mistake, another bridge to take..."

Angie spielte noch die letzten Töne aus, dann sah sie auf und zuckte im nächsten Moment zusammen. "Jeremías. Hast du mich erschrocken!" Germán wurde aus seiner Starre gerissen und schritt lächelnd in den Raum. Er liebte es, sie in Momenten wie diesen zu erwischen, wenn sie total in Gedanken oder der Musik versunken war. "Sorry. Ich war eigentlich auf der Suche nach Antonio, als ich dich singen gehört habe. Du hast eine so schöne Stimme, Angie.", fing Germán in der Tonlage des Pianisten zu reden an, während die blonde Frau bei dem Lob leicht errötete.

"Vielen Dank. Ich versuche gerade ein neues Lied zu komponieren. Gefällt es dir?" Angie blickte ihn unsicher und erwartungsvoll an. Sie konnte ja schlecht wissen, dass er ihr gestern schon gesagt hatte, wie sehr er das Lied mochte. "Klar, es klingt echt Hammer. Das wird auf jeden Fall ein cooler Song!" Eine Frage war Germán allerdings gekommen, die er ihr nun gut als Jeremías stellen konnte: "Dein Text, singst du über jemanden bestimmten?"

Es war ihm gestern schon aufgefallen und heute, da seine Schwägerin mit dem Text bereits weiter gekommen war, umso mehr. In diesem Lied ging es doch offensichtlich um einen Mann! Hoffentlich war es nicht dieser... dieser... "So hört es sich zumindest an. Ist es vielleicht dieser Paolo?" Angie lächelte und kam ihm näher. "Falls du Pablo meinst, der ist es nicht." Plötzlich bekam Germán ein mulmiges Gefühl. Sie meinte doch hoffentlich nicht Jeremías! Er wollte nicht, dass sie den Pianisten zu sehr mochte, immerhin gab es ihn gar nicht und er sollte schnellstmöglich von der Bildfläche verschwinden!

"Es geht um Germán, meinen Schwager. Der, der vorgestern eigentlich heiraten wollte." Die Augen des Pianisten wurden groß. Sie meinte ihn!? Aber... warum? Hatte er ihr nicht schon genug weh getan? "Ha-hast du noch Gefühle für deinen Schwager?" Auch wenn sein Verstand ihm zubrüllte, dass sie nein sagen sollte und mit einem anderen Mann, der im Gegensatz zu ihm zu seinen Gefühlen für die schöne Frau stand, ihr Glück finden, wollte sein Herz etwas ganz anderes hören.

"Ja, das habe ich. Ich wünschte zwar, es wäre anders, aber so ist es nicht.", seufzte Angie ehrlich. Germán musste schlucken. Angie liebte ihn! Sie liebte ihn immer noch, obwohl er sie in diesem Jahr so sehr verletzt hatte. Obwohl es falsch war, spürte er die Freude in sich aufsteigen. "Aber eigentlich gibt es da noch jemand anderen, der mich sehr interessiert. Ich weiß im Moment wirklich nicht weiter. Es wäre viel besser, meinen Schwager einfach zu vergessen und diesen Anderen zu fragen, wie er unsere Beziehung sieht, aber ich kann Germán nicht loslassen. Zumindest noch nicht." Urplötzlich sank seine Hoffnung, genau wie sein Herzschlag, wieder. Jetzt gab es tatsächlich einen anderen Mann, mit dem sie glücklich werden konnte... Ihm war wirklich nicht mehr zu helfen. Germán stand nicht zu seinen Gefühlen, wollte gleichzeitig aber nicht, dass sie andere Männer kennenlernte!

"Du hast gesagt, du suchst Antonio?", wechselte Angie auf einmal verlegen das Thema. Warum ausgerechnet jetzt? Wer war denn dieser andere Mann um Himmels Willen? "Äh, ja. Genau. Ich muss dringend mit ihm sprechen." Germán konnte die Neugierde in ihren blauen Augen deutlich funkeln sehen. "Ich habe vor zu kündigen." Schneller als er schauen konnte, verschwand der Glanz aus Angies Augen und sie sah ihn ungläubig an. "Das meinst du nicht Ernst!? Warum? Wenn es wegen Gregorio ist, dann..."

"Nein, nein.", unterbrach Germán. "Ich, ähm. Du kennst doch meine Tante, nicht? Ihr ähh, ihr geht es seit kurzem nicht so gut und ich will mich mehr um sie kümmern. Und das... das geht eben nicht, wenn ich hier im Studio arbeite. Deshalb möchte ich kündigen.", erläuterte er und war froh, diese Ausrede gefunden zu haben.

"Ach so, das verstehe ich natürlich.", antwortete Angie leise und blickte auf den Boden. Selbst ein Blinder erkannte, dass sie traurig war. Germán wusste gar nicht, dass sie Jeremías so ins Herz geschlossen hatte. Natürlich hatte es zwischen ihnen den ein oder anderen schönen Moment gegeben, aber trotzdem! Unfähig Angie noch länger so niedergeschlagen zu sehen, schritt Jeremías auf sie zu und legte seine Hand sanft unter ihr Kinn, um sie zum Aufsehen zu zwingen. "Du musst doch nicht traurig sein, Angie." Ihre blauen Augen blickten ihn so trüb an, dass Germán den folgenden Satz nicht verhindern konnte: "Wir können doch trotzdem Freunde bleiben. Egal, ob ich im Studio arbeite oder nicht."

Augenblicklich hellte sich ihr Gesicht auf und Angie strahlte ihn so glücklich an, dass Germán nicht anders konnte, als das Lächeln zu erwidern. Er strich mit seiner Hand vorsichtig hinauf, bis sie auf ihrer Wange lag. "Das fände ich sehr schön.", hauchte Angie und schmiegte sich näher gegen seine Hand, wie Germán überrascht feststellte. "Du weißt es nicht, oder?" So nahe, wie sie gerade beieinander standen, konnte Angie froh sein, dass er sich noch an seinen eigenen Namen erinnerte. "Was denn?"

Ihre wunderschönen Augen, die vorsichtig zu ihm aufblickten und das leichte, unsichere Lächeln auf ihren Lippen brachte Germán noch um den Verstand! "Dass du der Andere bist. Der, der mein Herz schneller schlagen lässt." Die junge Frau legte ihre Hände auf seine Schulter. "Ich würde gerne wissen, was du von uns beiden hältst. Ich würde dich nämlich gerne besser kennenlernen."

Nein! Nein, nein, nein! Germáns Augen wurden groß. Angie hatte sich in Jeremías verliebt. Das darf doch nicht wahr sein! Warum musste er seine Schwägerin immer und immer wieder verletzen? Während seine Schuldgefühle den großen Mann nur so überfluteten, kam Angie näher. "Was sagst du dazu?"

"Ich...ich...Angie." Germán wusste nicht, was er sagen sollte und konnte sich schlichtweg nicht mehr konzentrieren. Die blonde Frau war ihm mittlerweile so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten und sie kam noch immer näher. Sie würde ihn doch nicht wirklich küssen wollen!? Das durfte auf keinen Fall geschehen! Und doch war sich Germán nicht sicher, ob er ihren weichen Lippen widerstehen konnte und die Kraft aufbrachte, Angie von sich zu schieben...

Germangie - This Ain't GoodbyeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt