14. Kapitel

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Am nächsten Morgen machte sich Germán, oder viel eher Jeremías, sogleich auf den Weg ins Studio. Es war das letzte Mal. Das letzte Mal, dass er sich als jemand anderen ausgeben würde und lügen müsste. Wenn er in mehreren Minuten das Studio mit seinen restlichen Unterlagen und Entlassungspapieren verließ, wäre es endlich vorbei mit Jeremías. Für immer.

Gedankenverloren schlenderte Germán den Weg entlang, während in den Bäumen neben ihm mehrere Vögel zwitscherten. Er schenkte ihnen jedoch keinerlei Beachtung. Wie so oft konnte er nur an eines denken: Angie.

Nach kurzem Zögern hatte die blonde Frau am vergangenen Abend zugestimmt, wieder in sein Haus einzuziehen. Auch wenn Germán sich noch immer nicht sicher war, ob er mit diesem Angebot überhaupt das Richtige getan hatte, bereute er es nicht. Seine Schwägerin würde wieder mehr Leben in das Haus bringen und alle Anwesenden mit ihrer guten Laune anstecken. Es klang eigennützig, doch genau das brauchte Germán aktuell. Ablenkung und eine positive Stimmung, denn obwohl er sich so weit gefangen hatte, beschäftigte ihn Esmeralda und ihre Lüge noch immer. Mal träumte er davon, wie sie ihn an der Hochzeit sitzen ließ und all sein Hab und Gut an sich nahm, mal wachte er mitten in der Nacht auf und sah verängstigt zur Seite, nur um festzustellen, dass die andere Betthälfte leer war.

Es waren lediglich Kleinigkeiten, schmerzen taten sie dennoch. Zumal Germán im nächsten Moment von Schuldgefühlen überflutet wurde, da er genau das Gleiche tat. Er log ebenfalls. Er belog seine eigene Tochter, die wichtigste Person in seinem Leben!

Tief durchatmend betrat Germán das Studio. Er würde es wieder gutmachen! Seine Lüge hörte noch heute auf.

Als der große Mann das Lehrerzimmer betrat, hörte er augenblicklich die Stimme seiner Tochter. Die anwesenden Lehrer sahen sich über einen Laptop die Show der Schüler an. "Du hast einen wirklich wundervollen Song geschrieben.", lobte Antonio gerade Angies Komposition, welche Violetta performte. "Danke.", lächelte die Blonde und schaute weiterhin gebannt auf den Bildschirm. Germáns Blick heftete sich ganz automatisch auf seine Schwägerin. "Da hat er Recht, du hast so viel Talent.", murmelte er daraufhin viel eher zu sich selbst, doch die Lehrer hörten es ebenfalls.

Vier Köpfe wandten sich überrascht zu ihm um und Angie schenkte nun ihm ein verlegenes Lächeln. "Dankeschön." "Keine Ursache." Germán strich sich peinlich berührt seine schwarze Mütze zurecht. "Du bist bestimmt wegen deiner Kündigung hier.", leitete Antonio glücklicherweise das eigentliche Thema ein. "Genau, genau.", bestätigte der große Mann schnell. "Und wir können dich wirklich nicht zum Bleiben überreden?", hakte Pablo noch einmal nach, während er den Laptop zuklappte, sodass die Musik verstummte. "Leider nein. Es liegt auch wirklich nicht an euch, meine Zeit hier ist einfach vorbei." Antonio nickte verständnisvoll und suchte die Papiere zusammen, um sie Jeremías zu überreichen.

Keine Sekunde später hatte sich Beto schluchzend in seine Arme geworfen. "Mach's gut. Wir werden dich vermissen.", klagte der Musiklehrer wie immer viel zu übertrieben und klopfte Jeremías freundschaftlich auf den Hinterkopf. Achtung, die Perücke! "Danke, danke. Es war richtig cool mit euch, ihr seid alle echt klasse drauf." Germán versuchte sich irgendwie von Beto zu befreien, welcher schließlich von Pablo weggezerrt wurde. "Ich wünsche dir alles Gute.", verabschiedete sich nun auch dieser und reichte Germán die Hand. Wenn die beiden keine so verzwickte Beziehung zueinander hätten, hätte der große Mann Angies besten Freund sogar richtig freundlich gefunden. "Ich dir auch, Bro."

Bevor es noch emotionaler werden und länger dauern konnte, hob Jeremías die Hand und blickte noch einmal abschließend in die Runde. "Also dann, ciao."

Schnell drehte Germán sich um und lief aus dem Studio. Nur weg von hier! Weg von seiner Lüge und vor allem weg von Angie. Sie sollte nicht die Gelegenheit bekommen, mit Jeremías zu sprechen und somit nur noch mehr Zeit mit ihm verbringen. Sie sollte keine Gefühle für den erfundenen Pianisten hegen! Dass dieser Fluchtversuch zum Scheitern verurteilt war, wurde Germán spätestens dann bewusst, als er die rufende Stimme seiner Schwägerin vernahm: "Jeremías, warte!" Seufzend blieb der Angesprochene stehen. Dabei hatte er es schon bis ins Freie geschafft!

"Du kannst doch nicht einfach abhauen, ohne mich überhaupt eines Blickes zu würdigen.", tadelte ihn Angie mit einem kleinen Grinsen auf den Lippen. "Sorry, war keine Absicht. Was gibt's denn?" Germán konnte sich denken, was jetzt kommen würde und betete, dass er sich irrte. "Ich... ich wollte fragen, ob du -natürlich nur, wenn du Lust hast- dich mal mit... mit mir treffen willst.", erkundigte sich Angie unsicher und erfüllte damit seine Befürchtungen.

Warum? Warum musste alles immer so fürchterlich schief laufen? Germán hatte es ja nicht besser verdient, aber Angie? Warum musste sie jedes Mal mit hineingezogen werden? Sie würde am Ende erneut verletzt werden und das wieder einmal durch ihn!

Bei dieser unschuldigen Frage sowie der leichten Röte, die sich wie so oft auf ihre Wangen schlich, konnte sich Germán allerdings ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Und genau dieses schien Angie neuen Mut zu geben: "Du hast gestern ja gesagt, dass wir uns auch außerhalb des Studios sehen können, deshalb meine Frage. Ich fände das nämlich sehr schön."

Germán blickte ihr unentschlossen in die meeresblauen Augen. Was sollte er tun? Augenscheinlich richtig handeln, nein sagen und sie somit enttäuschen? Der große Mann wusste wirklich nicht, ob er das übers Herz brachte. Zumal er sich ihr als er selbst dann weiterhin nähern müsste, denn, dass sie sowohl von Germán als auch Jeremías ignoriert wurde, konnte er Angie auf keinen Fall antun.

Dies war allerdings keine Option. Natürlich wollte sich Germán mit ihr gut verstehen und eine gewisse Nähe aufbauen, jedoch sollte sich die junge Frau unter keinen Umständen neue Hoffnungen machen, sofern sie das nicht ohnehin schon getan hatte. Germán hatte die letzten Tage viel nachgedacht. Er war zu dem Schluss gelangt, dass er es nicht fertig brachte, ihr seine Liebe zu gestehen. Eine Beziehung zwischen den beiden wäre völlig falsch, es durfte nicht sein! Sie war die kleine Schwester seiner Frau, es war schlichtweg unmöglich. Zumal eine so tolle Frau wie Angie jemand besseren verdient hatte! Sie sollte jemanden finden, der ehrlich zu ihr war, der nicht verkleidet als eine andere Person vor ihr stand und der sie bedingungslos und ohne jegliche Bedenken und Zweifel lieben konnte. Dieser Mensch würde Germán niemals sein...

"Jeremías?" Angie wartete noch immer auf seine Antwort und ehe Germán sich versah, hatte er sich in den Tiefen ihrer blauen Augen verloren. Sie schimmerten so liebevoll, so erwartungsvoll, so hoffnungsvoll...

"Ja." Was?! "Was?" Germán schluckte. Er konnte Angie nicht enttäuschen, nicht schon wieder. "Ich würde mich sehr freuen, wenn wir beide mal etwas zusammen unternehmen." Freudestrahlend warf sich die junge Frau quietschend in seine Arme. "Dann steht die Verabredung!" Angie lächelte ihn breit an und platzierte spontan einen Kuss auf seine Wange. Germán schenkte ihr seinerseits ein gequältes, verzweifeltes Lächeln. Was hatte er bloß angerichtet!?

Germangie - This Ain't GoodbyeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt