Kapitel 1

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Rian

Das Kleid wehte um meine Oberschenkel. Es reichte mir nicht mal bis zu den Knien. Ich war barfuß. mitten im Wald. Allein. Wie immer.
Alles war friedlich. Vögel zwitscherten. Die Sonne schien durch das Geäst der Bäume. Ich lief los. Das Gras war noch nass vom Tau.
Aus irgendeinem Grund wusste ich, wo ich lang musste. Dabei war ich noch nie in diesem Wald.

Der Wald bei mir zuhause war klein. Er war klein, hässlich und die Hälfte der Bäume waren abgestorben. Der See verseucht. Niemand wagte sich in den sogenannten Schattenwald.
Der Wald hier war schon, alles war grün, sonnig, freundlich. In der ferne glitzerte ein See.
Ich lief los, freudig gespannt. Meine Haare, früher brünett, jetzt plötzlich hellblond, wehten um mich herum. Ich lachte sorglos auf. Meine Füße trugen mich bis zu einer Lichtung. Es gab drei Wege. Einen engen, dunklen Pfad, einen Weg zu einem Berg und einer zu einem Bach. Ich blieb stehen und betrachtete alle drei Wege.
"Schön hier, nicht?"
Ich wirbelte herum. Blonde, zerzauste Haare mit dunklen Strähnen, helle, blaue Augen, hohe Wangenknochen und ein zu einem Lächeln verzogener Mund.
"Wer bist du?" fragte ich.
"Die Frage ist eher, wer bist du?" fragte er zurück.
"Ich...bin ein Niemand. Ein Ghost Girl. Weißt du?"
Er nickte und betrachtete mich nachdenklich. "Sicher? Du? Ein Ghost Girl? Ich kenne welche, die viel eher eins sein müssten als du."
"Ich bin zufrieden." sagte ich und straffte mich.

"Rian. Rian! Steh auf. Rian!"
"Man, Mama!" rief ich empört, als ich blinzelte.
"Es gibt Essen, Liebling. Conor hat gekocht. Sei lieb."
"Der Kotzbrocken ist immer noch hier?" fragte ich schlecht gelaunt.

Seit dem Tod meines Vaters vor drei Jahren hatte sich meine Mutter zurückgezogen. Conor war seit vier Monaten an ihrer Seite. Er war ihr Physiotherapeut. Und er hatte Mamas Schmerzen bemerkt und sie...des Öfteren...zum Abendessen eingeladen. Vor knapp einem Monat war er hier eingezogen. Er behandelte Mama wie eine Hausfrau. Und sie schien es ganz okay zu finden. Deshalb flüchtete ich mich in meine Traumwelt. Solange es eben ging. Aber zu besonderen Anlässen - wie zum Beispiel, das Conor sich mal dazu herabließ, für uns zu kochen - zwang meine Mutter mich. Vermutlich hatte er nichts besonderes gemacht. Nudeln mit Ketchup. Oder Dosen-Futter.

Ich schwang mich aus dem Bett, suchte mir eine Jeans und ein sauberes Sweatshirt und stakste in die kleine Küche. Conor hatte doch tatsächlich Mamas alte Schürze umgebunden. Ich sollte unbedingt ein Foto machen! Wer weiß, wann Conor sich je wieder eine Schürze umband?
"Hallo, Rian. Gut geschlafen?" fragte Conor und holte das Salz aus dem Regal. Würzen wollte er anscheinend auch noch. Manno man.
"Mama hat mich aufgeweckt."
"Und wovon hast du so geträumt?"
"Wer sagt, das ich geträumt habe?"
"Du bist eines von den Mädchen, die viel lesen und viel Träumen."
"Aha. Mama sagt, du hast gekocht."
"Ist gleuch fertig. Sandy, kannst du den Tisch decken?"
Meine Mutter wuselte herein, überglücklich, und begann, den Tisch zu decken und sogar noch zu dekorieren. In der Mitte des Tisches prankte ein übergroßer, silberner Kerzenleuchter.
Es war der Kerzenleuchter, den mein Vater meiner Mutter geschenkt hatte. Den sie seit seinem Tod nicht mehr für ein Essen benutzt hatte.

Conor stellte das Essen hin und füllte jedem eine in seinen Augen gerechte Portion auf. Das war ungefähr so: Conor sagte selbst, er wäre ein Mann und bräuchte viel. Also nahm er sich fünf mal so viel, wie er Mama und mir gab. Und wehe, wir wollten noch mehr. Wir mussten doch den Idealen von der perfekten Hausfrau und Tochter entsprechen. Charakteristisch und auch vom Aussehen her.
Conor faltete seine Hände und sah Mama mit glitzernden grünen Augen an. Mama erwiderte den Blick.
"Rian," begann Conor, "Rian, deine Mutter und ich werden bald heiraten." sagte er schließlich. Mama seufzte glücklich.
Ich starrte auf eine Flamme von einer Kerze des Leuchters. Papa hatte ihn benutzt, um Mama zu fragen, ob sie heiraten wollten. Kurz vor der Hochzeit starb er. Mama schwor, niemals wieder zu heiraten.
"Rian? Conor würde für ein besseres Zuhause sorgen. Du würdest den ersten Stock ganz für dich alleine haben. Jede Menge Platz - sogar für neue Bücher." sagte Mama glücklich.
"Den ersten Stock?" fragte ich argwöhnisch.
"Sandy und ich haben schon eine neue Bleibe gesucht. Wir haben ein schönes, großes Haus gefunden. Abseits von anderen, aber dicht an der Stadt. Mit einem großen Garten. Nur für dich."
"Ich weiß, das es vermutlich schwer für dich ist..." begann Mama.
"Nein, ist es nicht. Sie ist überglücklich und weiß nicht, wie sie uns dafür danken soll." unterbrach Conor Mama schroff.

5 Monate Später

Ich sortierte meine Bücher gerade neu. Conor brachte mir jeden Tag seit der Hochzeit mindestens einen Karton Bücher mit. Er wollte sich einschleimen. Ich hatte die Hochzeit an mir vorbeischleifen lassen. Ich hatte mich nach der öffentlichen Trauung versteckt und mich wieder meinen Büchern und Tagträumen hingegeben. Conor entwickelte sich zu einem Schleimbolzen. Er ließ mich auch nicht mehr aus dem Haus raus. Es war wie ein Gefängnis.

Lustlos räumte ich meine Bücher zum dritten Mal in der Woche um, als ich am Fenster eine Bewegung wahrnahm. Neugierig geworden stakste ich zwischen meinen Büchern zum Fenster hinüber und sah hinaus. Der Blick war in den Garten. Im Garten stand der Junge aus meinen Träumen. Der Blonde, blauäugige, der mir seinen Namen nie verraten wollte.
Er sah stumm zum Fenster hoch. Wie zum Teufel hatte ich hier eine Bewegung sehen können, wenn er draußen und auch noch so weit weg vom Haus stand?!
"Und? Werde ich langsam verrückt?" fragte ich leise. Niemand antwortete. Ich schloss kurz die Augen und lehnte meinen Kopf an die Kühle Scheibe. Als ich meine Augen wieder öffnete, war der Junge verschwunden und ich sah Conor, der den Gartenzaun reparierte, und meine Mutter, die glücklich Unkraut zupfte.
"Wie kann man beim Unkraut-Zupfen glücklich sein?" murmelte ich. Conor sah hoch. Er machte eine rasche Bewegung mit dem Kopf, die anscheinend etwas wie Beweg-deinen-Arsch-vom-Fenster-Weg heißen sollte. Na toll. Das Ekelpaket sperrte mich ein und verbot mir dann auch noch, aus dem Fenster zu sehen. Mistkerl.




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