Kapitel 9

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Die meisten Geschäfte würden um die Mittagszeit schließen und die Bewohner der Stadt zogen ihre Vorhänge zu um die Hitze auszusperren. So kam es, dass die Stadt fast verlassen dalag, als sie sich auf den Weg zu der Werkstatt ihres Vaters machte. Im Gegensatz zu den anderen hielt er sein Geschäft auch in der Mittagshitze offen in der Hoffnung, dass ein paar Touristen seine Keramikarbeiten erwerben würden.

Die Hitze war drückend, fast als würde man gegen eine Mauer anlaufen. Nach wenigen Minuten lief ihr der Schweiß über die Stirn.

Der Weg führte sie direkt an der Kathedrale Maria de la Sede vorbei, deren kalten Mauern einen willkommenen Schutz vor der Sonne boten. Die Kathedrale hatte sich in den letzten Jahren zu einem ihrer Lieblingsorte entwickelt. Ungestört war man dort zwar nie, aber dennoch war die Schönheit und die Anmut dieses Baus so überwältigend, dass man wenn man unten stand und beobachtete wie das Sonnenlicht durch die bunten Fenster fiel und die mit Gold verzierten Gemälde erleuchtete, glaubte die Tore des Himmels stünden einem offen und ließen einen für einen kurzen Moment einen Blick auf eine andere Welt werfen.

Sie würde sich selber nicht etwa als gläubig bezeichnet, doch selbst der Ungläubigste unter uns Menschen kann, wenn er diesen prachtvollen Kirchenbau betritt, die aufkeimenden Gefühle nicht unterdrücken und nicht leugnen, dass es eine Macht geben muss und das diese ihren Finger das Geschick, ihren Köpfen den Einfallsreichtum und ihren Körpern und ihrem Geist die Kraft gibt ein solches Werk von solch vollendeter und gänzlich einnehmender Schönheit zu erschaffen.

Als die Bauherren dieser Kathedrale damals sagten: „Errichten wir eine Kirche so groß, dass uns die Nachwelt für verrückt erklärt", hätten sie sich die Auswirkungen ihres Schaffens wahrscheinlich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.

Für Millionen Gläubige auf dieser Welt schufen sie einen Ort und eine Möglichkeit Gott ihre Verehrung zu zeigen.

Für Camilla schufen sie einen Ort an den sie sich zum Nachdenken zurückzog, einen Ort an dem sie zur Ruhe kam.

Und am aller wichtigsten, sie schufen einen Ort an den sie sich, wenn sie am Leben zweifelte und nur das schlechte in der Welt und in den Menschen sehen wollte, flüchtete.

Immer dann kam sie hierher und sah, dass der Menschheit ein Stück vom Himmel gegeben wurde, ein Stück an dem sie inre Kräfte aufladen und ihre Seele heilen lassen durfte.

Sich von der Herrlichkeit der Kathedrale losreißend,  setzte sie ihren Weg zum Laden ihres Vaters fort. Er befand sich im Barrio Santa Cruz, im sogenannten Judenviertel.

Nicht nur Touristen streiften durch die weißen Gassen im Schatten der Reales Alcázares, auch viele Einwohner der Stadt kamen hierher um einige ruhige Stunden zu verbringen, fernab vom Lärm der Autos und Motorräder.

Die Gassen erweckten den Eindruck ein Künstler habe sie in eine Stunde der tiefsten Eingebung gezeichnet. Bunte Blumen in aufwendigen Keramiktöpfen zierten die Fensterbänke und Balkone des Viertels und kleine Cafés oder Restaurants säumten die Straßen.

Das Keramiklädchen ihres Vaters befand sich direkt bei der Calle Lope de Rueda. Hier standen die Topfpflanzen sogar auf der Straße und bildeten einen gemütlichen Platz zum Entspannen. Camilla liebte die Atmosphäre, die hier herrschte.

Als sie das Geschäft betrat, verriet das Klingeln einer Glocke ihr Kommen. Drei Tische standen im Raum verteilt, gedeckt mit Keramikware. Vieles hing an den Wänden oder stand in Regalen und schon vor der Ladentür zierten große Vasen und Skulpturen den Eingang.

„Buenos Dias, ich bin sofort bei ihnen" hörte sie ihren Vater aus dem hinteren Teil des Ladens, der Werkstatt, rufen.

„Ich bin es bloß Papa. Señora Comez war so gut uns etwas von ihrem köstlichen Essen zu bringen und ich dachte du hast sicher Hunger".

In der Werkstatt fand sie ihren Vater, wie er mit tonverschmierten Händen an einer neuen Kreation arbeitete.

„Ist das die Kundenbestellung von der du geschrieben hast?" fragte sie und packte das Essen auf einen kleinen Tisch. In der Werkstatt befand sich eine Kochplatte die sie benutzte um die Suppe in der Schüssel aufzuwärmen. Langsam rührend, sah sie ihrem Vater bei der Arbeit zu. Seine Hände formten den Ton mit geschmeidigen Bewegungen zu einer birnenförmigen Vase, als hätten sie nie etwas anderes getan.

„Genau das ist sie. Don Federico hat sie für die Hochzeit seiner Enkelin nächste Woche bestellt. Er will zehn davon. Alle mit echtem Blattgold verziert. Er bringt es nachher vorbei" antwortete er und deutete mit einer Handbewegung in eine Ecke, wo bereits sieben solcher Vasen standen.

„Eine ziemlich große Menge findest du nicht?"

„Er sagte sie sollen die Eingangshalle links und rechts säumen wie Bäume die aus dem Boden sprießen. Ein wenig überzogen wenn du mich fragst aber die Familie hat das Geld. Sie zählen zu den Wohlhabendsten in ganz Sevilla. Und sie als Kunden zu haben ist ein großes Glück."

Don Federicos Vorfahren kamen quasi mit leeren Händen nach Sevilla und hofften hier auf das große Geschäft, wie viele anderen zu ihrer Zeit auch. Er selbst begann sein Geschäft mit einer Feinkostkette, die ihn mal mehr mal weniger über Wasser hielt. Dann verschwand er für einige Wochen plötzlich von der Bildfläche und als der wieder auftauchte war er stinkreich. Keiner wusste woher das Geld stammte.

Seit dem waren über dreißig Jahre vergangen und heute gehörten der Familie sämtliche Luxushotels der Stadt, zahlreiche Restaurants und sogar einige Nachtclubs.

Ein Mitarbeiter des Finanzamts hatte lange Zeit Recherchen über den fragwürdigen Reichtum angestellt um einer möglichen Steuerhinterziehung auf die Schliche zu kommen.

Besagter Mitarbeiter wurde von Dienst suspendiert und als er auf eigene Faust weiter recherchierte, es roch für ihn stark nach Verschwörung und Korruption, fand man ihn gefesselt und mit einem Betonklotz an den Füßen im Fluss Guadalquivir.

Seitdem stellte keiner mehr Fragen.

Camilla nickte lediglich und so aßen sie schweigend die Suppe die Señora Comez ihnen gebracht hatte. Dazu gab es ihr selbst gebackenes Brot nach dem Rezept ihrer Urgroßmutter, eine Geschichte die sie jedes Mal mit gleichbleibender Inbrunst aufs Neue erzählte.

Es war erst früher Nachmittag und während ihr Vater versuchte mit zwei englischen Touristen zu kommunizieren, die an einem Keramikset interessiert waren, beschloss sie ihre Lieblingsbuchhandlung im Barrio Santa Cruz einen Besuch abzustatten. Die Glocken läuteten abermals als sie den Laden verließ und hinter sich hörte Camilla noch wie ihr Vater in gebrochenem Englisch versuchte zwei Peseten zu sagen, während er wie wild mit zwei Fingern in der Luft gestikulierte und mit der anderen Hand auf die Keramikteller in der Hand der Touristen zeigte.

Daughter of Ash and Flames Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt