Kapitel 22

107 14 8
                                    

Es kam ihr vor als rannte sie ewig, als würde der Boden unter ihren Füßen hinweg fliegen, als würden ihre brennenden Beine sie in Windeseile bis an die Grenzen der Stadt tragen.

Doch die Zeit stand still. Sie rannte und bewegte sich dennoch nur in Zeitlupe.

Setzte einen Fuß vor den anderen, machte einen Schritt nach dem anderen und verharrte dennoch beinahe an Ort und Stelle.

Als schössen Wurzeln aus der Straße empor um ihre Beine zu fesseln und sie zu halten. Jeden Schritt musste sie erkämpfen und als schließlich ihre Beine, schwer wie Blei, ihr jeden weiteren Dienst versagten, sank Camilla an einer Hauswand entlang auf den steinigen Asphalt.

Ihre Knie schlugen auf dem harten, unnachgiebigen Untergrund auf und ihr Atem ging schwer.

Keinen Schritt hätte sie mehr machen können. Ihr Körper zitterte, ihr Geist wollte immer wieder unter Panik aufschreien, ihr Herz ward schwer von der Last.

Und obwohl es sich anfühlte als sei sie bis an das Ende der Welt gerannt, als seien Jahrzehnte vergangen, als sei ihr ganzes Leben an ihr vorbei gezogen und sie um das Dreifache gealtert, hatten ihre Füße sie kaum weiter getragen als bis zur nächsten Straße.

In der Ferne, hier und dort verdeckt von anderen Häusern, konnte man das Schild erkennen, auf dem in großen Lettern das Wort BUCHHANDEL verkündet wurde.

Obwohl oder vielleicht gerade weil Señor Rosenthal ihr aufgetragen hatte nicht noch einmal zurück zu blicken, drehte Camilla sich ein letztes Mal um und richtete ihre Augen auf die Buchhandlung.

In diesem Moment erschütterte eine Explosion die Straße und ließ den Boden unter ihren Knien beben.

In Camillas vor Entsetzen geweiteten Pupillen spiegelte sich das Bild der in Flammen stehenden Buchhandlung wieder.

Mauern von anliegenden Häusern gerieten ins Wanken, stürzten auf die Straße und erstickten ihren verzweifelten Schrei.

Sie wollte zurück zur Buchhandlung, wollte den alten Buchhändler aus den Flammen retten, doch eine weitere Explosion schleuderte Scherben durch die Luft.

Überall schnitt ihr scharfes Glas in Gesicht und Hände. Blut rann überall an ihrem Körper hinab und zwang sie schließlich hinter einer Mauer Schutz zu suchen.

Dort gaben ihre Beine unter ihr nach, ihr Kopf schlug hart auf dem Boden auf und alles verschwamm vor ihren Augen. Kleine Stücke aus der Mauer rieselten auf sie herab, das ganze Gebiet war von einer riesigen Staubwolke bedeckt.

Zuletzt hörte sie das Geräusch von Krankenwagen und Feuerwehrsirenen, welche sich mit den qualvollen Schreien jener Menschen, die aus ihrem Zuhause geflüchtet waren, auf der Straße mischten.

Dann griff die Dunkelheit nach ihr und zog sie mit sich in ihre Tiefen.

Als sie das nächste Mal zaghaft die Augen wieder aufschlug, wusste sie nicht wie viel Zeit vergangen war.

Staub bedeckte ihren ganzen Körper, war in ihre Augen, in ihre Ohren, in ihre Nase und in ihre Lunge eingedrungen und ließ sie heftig Husten.

Auf den Straßen war das Stimmengewirr vieler Menschen zu vernehmen und Camilla richtete sich vorsichtig auf um die Situation auszukundschaften. Dabei vielen Glassplitter von ihrer Kleidung und aus ihren Haaren zu Boden.

Heißer, brennender Schmerz durchfuhr sie bei jeder ihrer Bewegungen. Die Splitter waren durch die Explosion wie tödliche Geschosse durch die Luft gewirbelt worden und hatten ihre Kleidung sowie die Haut darunter an vielen Stellen zerfetzt.

Aus ihrem rechten Oberschenkel ragte eine große Scherbe, die tief in ihrem Fleisch festsaß. Darum würde sie sich später kümmern müssen.

Humpelnd gelangte sie an die Straße. Sich an die Mauer stützend spähte sie um die Ecke um sich sogleich zu wünschen es nicht getan zu haben.

Die Straßen waren voll mit Menschen. Die Meisten von ihnen lagen verwundet auf dem Boden. Sanitäter und freiwillige Helfer, die von überall aus der Stadt gekommen sein mussten, gaben ihr Bestes und versorgten die Verletzten unermüdlich, desinfizierten ihre Wunden, legten Verbände an, beruhigten ihre Angehörigen. Doch es waren einfach zu viele Verwundete als das sie der Situation hätten Herr werden können.

Im Minutentakt raste ein neuer Krankenwagen an um ohne Verzug mit schwer Verletzten beladen zu werden, bevor sie mit quietschenden Reifen und Blaulicht Richtung Hospital Universitario de Virgen Macarena davon fuhren.

Im Hintergrund lag die Buchhandlung in Trümmern, heruntergebrannt bis auf die Mauern.

Feuerwehrmänner löschten die letzten kleinen Flammen die aus den Nachbargebäuden empor züngelten.

Doch Camillas Blick hatte sich bereits getrübt und ins nirgendwo gerichtet. Tränen verschleierten ihre Sicht und fanden ihren Weg durch den Dreck auf ihren Wangen, feuchte Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassend.

Sie hatte Señor Rosenthal immer geliebt. Vom ersten Tag an. Doch ausgerechnet heute als sie nach all den Jahren erfahren hatte welche Bedeutung er in ihrem Leben still und heimlich eingenommen hatte, wie er über sie gewacht und sie behütet hatte, wurde er ihren Händen mit grausamer Brutalität wieder entrissen.

Sie wollte schreie, laut losschreien oder um sich schlagen. Wollte mit ihren Fäusten auf die Steinmauer einprügeln um etwas anderes zu spüren, irgendetwas anderes, außer dem lähmenden Schmerz und der eisigen Leere.

Doch ihr Körper gehorchte nicht. Ihr Geist war gefangen in einer starren Hülle und so krampfhaft er auch gegen dessen Wände ankämpfte, so unnachgiebig waren diese.

Doch aus der Ferne versuchte etwas in ihr Bewusstsein einzudringen und sie aus ihrer Starre zu reißen. Etwas rüttelte an den Mauern ihres Unterbewusstseins und zwang sie aus den Tiefen ihres Schmerzes wieder aufzutauchen.

Anfangs konnte sie nicht sagen was es war. Suchend ließ sie ihren Blick über das Szenario hinweg schweifen, bis ihre Augen an etwas hängen blieben.

In einer Seitenstraße neben der Buchhandlung, halb versteckt zwischen den Schatten der hervorstehenden Balkone, umgeben von Trümmern, stand ein Mann umhüllt von einem langen schwarzen Umhang.

Die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen und verdeckte es gänzlich.

Zuerst wusste Camilla nicht, weshalb ihr Blick an ihm haften geblieben war.

Plötzlich jedoch wiederholten sich die Geschehnisse der letzten Tage in ihren Gedanken.

Sie sah geschwungene Lippen, grüne Augen, spürte seinen festen Griff um ihren Körper und hörte den Klang seiner Stimme in ihren Ohren.

Die einzelnen Puzzleteile fügten sich zu einem Bild zusammen und endlich begriff sie, dass der geheimnisvolle Retter in der Nacht ihres Geburtstages auch derjenige war, der sie vor dem Angriff des schwarzen Priesters in ihrem Zimmer gerettet hatte. Vielleicht, so dachte sie, war auch er es, der das Buch an sich genommen hatte.

Doch wer war er? Und was wollte er?

Sie würde es herausfinden, denn er war ihr einziger Anhaltspunkt. 

Daughter of Ash and Flames Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt