Reesa saß mit geschlossenen Augen auf der kleinen Holzbank in ihrem Garten und ließ sich die Sonne in ihr Gesicht scheinen. Neben ihr stand ein kleiner Tisch auf dem eine Tasse Tee und ein alter angefressener Roman lagen. Der Anflug eines schlechten Gewissens überkam sie, eigentlich hätte sie sich einem anderen Buch widmen sollen. Doch die letzten Jahre waren ohne sichtliche Gefahr oder Bedrohungen verstrichen und sie hatte sich so sehr an den Frieden gewöhnt, dass sie ein klein wenig faul und schwerfällig geworden war. Ihr Freund Javen erinnerte sie immer wieder daran, wie fahrlässig ihr Verhalten war. Sie wohnten einige Stunden voneinander entfernt, doch sie besuchten sich regelmäßig. Nach jener Nacht hatte er sie begleitet und unterstütze sie und ihre junge Familie wo er nur konnte. Er war der einzige, mit dem sie seit jener Nacht gesprochen hatte. Die anderen hatte sie nicht wieder gesehen, geschweige denn von ihnen gehört. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen sich aufzuteilen. So sehr sie den derzeitigen Frieden in ihrem Leben auch liebte, wusste sie doch um dessen Zerbrechlichkeit. Doch zumindest heute wollte sie die finsteren Gedanken, die sie plagten noch einmal beiseiteschieben und den Tag mit ihrer Familie ausklingen lassen. Sie wollte ein wenig Normalität. Morgen würde sie sich wieder an die Arbeit machen. Mit diesen Gedanken lehnte sie sich entspannt zurück und nahm gerade einen Schluck Tee aus ihrer Tasse als ihr Mann in der Verandatür erschien, ihre kleine Tochter Camilla auf dem Arm haltend, die freudig mit den Ohren ihres Vaters spielte und dabei vergnügte Quietschlaute von sich gab.
"Es lag ein Brief im Briefkasten, adressiert an dich. Ich habe ihn dir auf den Küchentisch gelegt. Falls du mich suchst ich bin oben und lasse der Kleinen ein Bad ein." Bevor sie antworten konnte, hörte sie seine Schritte bereits die Treppen hinauf hallen.
Ein Brief, adressiert an sie? Vermutlich eine Rechnung oder unwichtige Werbung.
Die Sonne stand nun hoch am Himmel und das heiße Wetter machte sie so müde, dass ihr die Augen schon fast von alleine zuzufallen drohten. Daher steuerte sie auf einen schattigen Platz unter den Bäumen in ihrem Garten zu, ließ sich in das kühle Gras sinken und beschloss sich für eine Weile dem Land der Träume hinzugeben.
Als Reesa das langsam aus ihren Träumen erwachte und die Augen behutsam zu öffnen begann, sollte sie zu ihrer Überraschung feststellen, dass die Sonne bereits unterzugehen drohte und eine Brise kühler Abendluft sie umwehte. Leicht verschlafen ging sie durch die Gartentür zurück in ihr Wohnzimmer und horchte dort auf Geräusche ihres Mannes und ihrer Tochter. Doch das Haus war leer, nirgendwo war auch nur der leiseste Laut zu hören. Auf dem Küchentisch lag der an sie adressierte Brief, direkt daneben eine Nachricht von ihrem Mann. Er mache einen kurzen Spaziergang mit ihrer Tochter und habe sie nicht aufwecken wollen. Außerdem versprach er rechtzeitig zum Abendessen Zuhause zu sein. Reesa verstand den Wink ihres Mannes und begann die Zutaten für das Essen aus dem Kühlschrank zu holen, als das rote Aufleuchten des Knöpfchens am Anrufbeantwortet ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie musste so tief geschlafen haben, dass sie das Klingeln des Telefons im Garten nicht gehört hatte.
Sie drückte das Knöpfchen um die Nachricht abzuhören. Die Nummer war ihr unbekannt. Kurz darauf ertönte eine Stimme, mit der sie heute nicht mehr gerechnet hatte. Javen sprach schnell und gedämpft. Panik schwang in seinen Worten mit.
"Reesa" schallte seine Stimme aus dem Anrufbeantworter "hoffentlich ist das ein gutes Zeichen und du bist schon über alle Berge. Wenn nicht, dann musst du sofort verschwinden! Sie kommen! Nimm nichts mit, du darfst keine Zeit verlieren. Ich bin schon auf dem Weg zu euch. Wir treffen und an unserem Versteck. Sei vorsichtig."
Mit diesen Worten endete die Nachricht. Kalter Schweiß brach ihr aus und ihr Magen verkrampfte sich vor Angst. Was war in so kurzer Zeit geschehen? Die Erkenntnis kam plötzlich und traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie rannte zum Tisch zurück und zerriss so schnell es ging den Briefumschlag. Ihr wurde übel. Gerade so erreichte sie das Waschbecken um sich zu übergeben, und versucht mit ruhigen, tiefen Atemzügen die aufkeimende Panikattacke zu unterdrücken.
Wieso nur hatte sie sinnlos und leichtfertig so viel Zeit verschwendet? Das Leben aller war in Gefahr gebracht. Nun zählte jede Sekunde. Sie musste schnell sein.
Fluchend rannte sie die Treppe zum Badezimmer hoch. Mit hastigen Bewegungen versuchte sie eine der Wandfließen von ihrem Platz zu entfernen, doch ihre verschwitzten Hände fanden einfach keinen Halt. Sie musste es wieder und wieder versuchen, bis die einzelne Fließe in ihrer zitternden Hand lag und das Versteck freigab, in welchem ein sorgsam umhülltes Päckchen lag. Sie musste Camilla und das Buch in Sicherheit bringen.
Das Buch in der einen Hand, rannte sie in ihr Arbeitszimmer und zog die oberste Schreibtischschublade auf, entleerte sämtlichen Inhalt und fand unter einem eingebauten Doppelboden den Umschlag nach dem sie gesucht hatte. Dort waren alle Dinge enthalten, die sie brauchte um erfolgreich eine Weile untertauchen zu können, zusammen mit genügend Geld für die nächsten zwei Jahre.
Mehr brauchte sie nicht. Jetzt musste sie ihre Tochter finden. Eilig hastete sie die Treppe hinunter und geriet auf einer der letzten Stufen ins Stolpern. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Fußgelenk, doch sie durfte nicht stehen bleiben. Reesa wusste nicht wie viel Zeit sie noch hatte, bevor sie kamen, doch sie wusste dass jede Sekunde Vorsprung die sie gewinnen konnte, den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte. In diesem Moment öffnete sich die Haustür und ihr Mann kam mit Camilla in ihrem Kinderwagen zur Tür hinein. Er setze zu einer Begrüßung an, doch ihr Gesichtsausdruck ließ ihn auf der Stelle verstummen. Sie nahm ihm die Kleine aus seinen Armen und blickte tief in seine Augen. "Ich muss für eine Weile mit Camilla untertauchen. Ich weiß nicht wie lange. Es ist zu unser aller Sicherheit. Sobald ich kann schreibe ich dir. Verlasse dieses Haus so schnell wie möglich und tauche irgendwo bei Freunden unter. Dort bist du sicher. Versuche nicht mich zu finden, wenn die Luft rein ist komme ich und finde dich."
Während sie gesprochen hatte war sie bereits zum Auto gelaufen und hatte Camilla in ihrem Kindersitz verstaut. Ihr Mann war ihr hinterher gelaufen, völlig vor den Kopf gestoßen und die vollen Auswirkungen ihrer Worte erst langsam begreifend. Schon immer hatte sie Geheimnisse vor ihm gehabt. Und schon immer hatte er um diese Geheimnisse gewusst, doch bisher hatte er nie begriffen wie gefährlich diese ihnen werden konnten und welche Auswirkungen es auf ihr gemeinsames Leben haben könnte, sollte ihre Vergangenheit sie jemals einholen. Und nun hatte sie sie eingeholt. Und er begann zu begreifen.
Bevor er etwas auf ihre Worte erwidern konnte, nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und presste ihre Lippen auf die seinen, für einen letzten bitter süßen Abschiedskuss.
„Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben."
Dann stieg sie in das Auto ein. Sie hörte seine Schreie. Hörte wie er ihren Namen rief. Hörte seine Verzweiflung. Hörte wie seine Stimme brach und die Tränen kamen. Doch sie drehte das Radio laut auf um seine Schreie und das Weinen ihrer kleinen Tochter zu verdrängen.
Sie sah ihn rennen, dem Auto hinterher. Doch seine Silhouette im Rückspiegel wurde immer kleiner und kleiner und gerade als sie glaubte ihn in der Ferne auf die Knie fallen zu sehen, vernebelten ihr ihre Tränen gänzlich die Sicht. Anhalten durften sie nicht, also fuhr sie halb blind vor Tränen und Schmerz, um so schnell wie möglich Distanz zwischen sich und das Haus zu bringen.
Reesa hatte immer geahnt, dass sie eines Tages diese schreckliche Tat an ihrem Mann würde begehen müssen. Sie hatte gewusst, dass es ihm das Herz brechen würde. Doch trotz allem hatte sie es gewagt ihm Liebe zu schenken und mit ihm ein gemeinsames Leben aufzubauen. Ihre Hoffnung war zu groß gewesen. Nun wurde ihr Alles entrissen. Doch Camilla und das Buch in Sicherheit zu bringen und die Anderen zu finden war etwas von solch großer Wichtigkeit, dass sie das Opfer ihrer Liebe dafür bringen musste. Zu viele Leben hingen davon ab.
Halten um zu Tanken musste sie erst in einigen Stunden wieder. Und so fuhr sie durch die dunkle, kühle Abendluft. Die Gefahr mit jedem Meter weiter hinter sich lassend.
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Daughter of Ash and Flames
FantasiEine geheime Prophezeiung. Ein uraltes Erbe. Ein erbarmungsloser Herrscher auf dem Gipfel seiner Macht. Eine letzte Chance auf Freiheit. Und eine Liebe gefangen zwischen Verrat und Hass. Ein tragischer Unfall reißt Camillas Mutter zu früh von ih...