Kapitel 29

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Camilla atmete ein weiteres Mal tief ein und ging entschlossenen Schrittes auf den seitlichen Ausgang des Friedhofes zu, durch den vor wenigen Sekunden die unbekannte Gestalt getreten war.

Unter dem Torbogen drehte sie sich ein letztes Mal um. Viele Meter hinter ihr ragte das Haupthaus in der Dunkelheit auf. Seine Fenster waren hell erleuchtet. Doch Camilla verstand, dass wenn auch nur die Hälfte dessen stimmte, was sie in den letzten Tagen erfahren hatte, kein Licht der Welt ihr Schutz bieten konnte.

Mit diesem Gedanken im Kopf trat sie auf die dunkle, spärlich erleuchtete Straße.

Sie erschrak. Wenige Meter entfernt, am Rande des von einer Straßenlaterne geworfenen Lichtkreises, stand die Gestalt.

Sie hatte dort auf Camilla gewartet. Umhüllt in blutrote Gewänder und Dunkelheit, verbarg sie ihre wahre Identität. Obwohl Camilla die Augen nicht sehen konnte, spürte sie doch deren bohrenden Blick auf sich.

Das ungute Gefühl in ihr drohte überhand zu nehmen.

Instinktiv wich sie einen Schritt zurück.

Doch die Gestalt stand lediglich regungslos auf der Straße und beobachtete sie.

"Wer sind Sie?" fragte Camilla erneut. Ein ängstliches Zittern hatte sich in ihre Stimme geschlichen.

Doch statt einer Antwort drehte sich die Gestalt erneut um und ging fort.

Sie verschwand um eine Straßenbiegung und Camilla befürchtete den Unbekannten verloren zu haben. Doch als sie panisch um die Ecke rannte, blieb sie abrupt stehen.

Ein weiteres Mal stand die Gestalt mitten auf der Straße und wartete.

Camilla wusste nicht wie lange das so weiter ging. Jedes Mal verschwand die Gestalt und wartete dann hinter der nächsten Ecke auf sie.

Es war befremdlich. Nie zuvor hatte sie etwas so schauriges erlebt. Es war, als folge sie einem Geist. Immer wenn sie am Meisten zweifelte und kurz davor war umzukehren, reckte sich ihr aus der Ferne einer der verhüllten Arme der Gestalt entgegen. Dort wo Hände hätten sein müssen, erblickte sie nur tiefschwarze Löcher. Dennoch sah sie vor ihrem inneren Auge knorrige Hände, die sich ihr entgegenstreckten und sie fassen wollten.

Erneut befand sie sich in einem Teil der Stadt, den sie zuvor nie besucht hatte. Die Häuser waren in miserablen Zuständen und wirkten oft unbewohnt. Das ein oder andere Mal hätte sie jedoch schwören können Augen durch die schwarzen Fenster hindurch blitzen zu sehen.

Ob die Gestalt sie gehen lassen würde, wenn sie sich jetzt entschied ihr nicht weiter zu folgen?

Doch wohin sonst hätte sie gehen sollen? Ihr Vater glaubte sie sei bei einer Freundin. Was würde sie ihm sagen, wenn sie jetzt plötzlich vor der Tür stand? Señor Rosenthal war für immer fort und sonst konnte sie niemandem trauen.

Also folgte sie ihr weiter und weiter.

Irgendwann bemerkte sie, dass sich das Bild zu ihrer Linken und Rechten zu ändern begann.

Die Häuser waren nicht mehr ganz so heruntergekommen.

Sie waren größer und machten einen bewohnten Eindruck.

Hier und da sah sie zwischen den Häusern einige geschlossene Geschäfte.

Die ganze Umgebung wirkte weniger bedrohlich als noch wenige Minuten zuvor und das Atmen fiel Camilla wieder etwas leichter.

Dennoch fiel ihr auf, dass sie seitdem sie den Friedhof verlassen hatte, keine Menschenseele zu Gesicht bekommen hatte. Ob das ein Zufall sein konnte.

Plötzlich erkannte sie die Straßen, über die sie lief.

Sie war ganz in der Nähe der Einkaufsstraßen. Von hier aus war es ebenfalls kein weiter weg mehr bis zu Señor Rosenthals Buchhandlung.

Auch der Keller, in dem sie tagelang festgehalten wurde, musste ihrer Orientierung zufolge nicht allzu weit von hier entfernt sein. Der Gedanke ließ sie schaudern und erfüllte sie zugleich mit einer unbegreiflichen Sehnsucht. In einer solch großen Stadt, bewegte sie sich doch nur in einem winzig kleinen Radius. Sie war ausgebrochen und doch fühlte Camilla sich plötzlich wie in einem Gefängnis.

Ob ihr Verschwinden Mirel bereits aufgefallen war?

Ob er sich auf die Suche nach ihr gemacht hatte?

Ob er überhaupt an sie dachte?

Das laute Zufallen einer Tür riss sie aus ihren Gedanken.

Sie sah sich um, konnte die unbekannte Gestalt jedoch nirgends erblicken. Durch welche Tür war sie gegangen?

Verdammt! Camilla verfluchte Mirel und dass die Gedanken an ihn sie von Wichtigerem abgehalten hatten.

Unsicher ging sie in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war.

Unvermittelt stach ihr etwas ins Auge.

Eine dunkelgrüne Tür, deren Farbe an vielen Stellen bereits abgeblättert war.

Früher hatte eine rote Schrift sie am oberen Rand geziert, heute konnte man kaum noch etwas darauf erkennen.

Die Tür stach sogar in der Dunkelheit hervor. Vorsichtig drückte Camilla mit der Hand dagegen.

Knarrend gab die Tür nach und öffnete einen Spalt, der in die Schwärze hinab führte.

Camilla suchte nach einem Lichtschalter, konnte aber keinen entdecken.

Dann jedoch bemerkte sie ein Schimmern vor sich.

Es war eine Öllampe, in deren Glas sich das schwache Licht der Straßenlaternen gespiegelt hatte. Sobald Camilla sie berührte, entflammte ein kleines Feuer im inneren der Lampe. Wie konnte das sein? Im Schein der Öllampe tat sich vor ihren Augen ein Pfad auf, der eine steile gewundene Treppe hinab führte.

Das Licht reichte nicht aus um weit zu sehen.

Wohin die Treppe sie führen würde, konnte sie nicht erkennen.

Aus den Tiefen des Gebäudes stieß ein eisiger Windhauch zu ihr empor und brachte das Licht der Öllampe zum Flackern.

Kurz schloss sie die Augen, nahm all ihren Mut zusammen und setzte einen Fuß durch die Tür.


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