Es war eine warme Sommernacht, ganz so als hätte nach all dem Trubel und Durcheinander endlich auch das Wetter wieder zurück zu seiner Mitte gefunden. Die Wärme half Camilla ihre steifen Glieder zu bewegen und trotz zunehmender Kraftlosigkeit immer weiter zu gehen. Mirel hatte sie fest am Arm und zog sie durch dunkle, enge Gassen. Sie mieden beleuchtete Straßen und immer wenn sie auch nur das leiseste Geräusch hörten, suchten sie Schutz in einer verborgenen Ecke und kauerten sich dort aneinander, bis Mirel es als sicher empfand weiter zu gehen. Camilla wusste, dass es so am sichersten war, doch es war mühsam und sie kamen nur langsam voran. Sie wusste nicht wie lang sie das noch aushalten würde. Immer wieder wurde ihr schwarz vor Augen. Sie versuchte das Gefühl der zunehmenden Ohnmacht zu verdrängen, versuchte gegen die flüsternden Stimmen in ihrem Inneren anzukämpfen.
Die Stimmen riefen nach ihr, suchten nach ihr, lockten sie hinab in die Finsternis. Es war der Ruf der Hölle und er kam aus ihrem Inneren. Das Gift musste sich bereits weit ausgebreitet haben. Sie spürte ihre Zeit verrinnen, wie Sand in einer Sanduhr. Kalter Schauer durchlief sie, bei dem Gedanken nur noch eine seelenlose Hülle zu sein. Sie wollte nicht versuchen sich vorzustellen, was die Priester mit ihrem Körper machen würden. Nach all den Erfahrungen war sie sich sicher, dass nicht einmal ihre dunkelsten Vorstellungen der Realität nahe kommen würden.
Taumelnd stieß sie an Mirel. Seine kräftigen Arme bewahrten sie vor einem Sturz. Erschöpft sank sie darin zusammen. Ihre Beine brannten wie Feuer und ihre Lunge wollte keine Luft mehr in sich aufnehmen. Sie wollte sich krümmen vor Schmerzen, wollte ihre Arme um sich legen und wünschte sich nichts als Ruhe. Ruhe und Frieden.
"Bitte, wir müssen weiter gehen. Nur noch ein kleines Stück. Fast haben wir es geschafft. Gib jetzt nicht auf, bitte."
Sie hörte das Flehen in seiner Stimme, seine Verzweiflung und verborgene Tränen. Doch sie konnte es nicht, würde es nicht schaffen. Ein Blick auf ihre Hand war jegliche Bestätigung die sie brauchte. Schwarze Adern durchzogen die helle Haut darauf. Das Gift hatte sich über ihr Blut in ihrem ganzen Körper ausgebreitet. Bald würde ihr Herz versagen, sie konnte spüren wie ihr Herzschlag immer langsamer wurde.
"Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir. Ich war so dumm."
Es war nur ein leises Flüstern, das sich über ihre trockenen Lippen stahl. Doch in diesem Moment war es als gäbe es nur sie beide. Die Welt stand still. Es war eine Schweigeminute für ihre so jungen, aufkeimenden Gefühle. Für diese zarte Knospe der Liebe, die sie nun mit in den Tod nehmen würde. Und obwohl ihnen so wenig gemeinsame Zeit vergönnt war, fühlte sie kein Bedauern, nur Dankbarkeit. Dankbarkeit für jede Sekunde mit Mirel, egal wie gut oder schlecht sie genutzt war. Denn nun wusste sie es, nun begriff sie es. Ihr Herz hatte seinen Gefährten schon beim ersten Anblick erkannt. Doch ihre Augen waren blind gewesen. So blind.
Ein warmer Regentropfen fiel in ihr Gesicht und rann ihre Wange hinab. Der Himmel weinte um sie. Nein, es war nicht der Himmel. Sie blickte in das Gesicht ihres geliebten Mirel und fand es von Tränen bedeckt.
"Du musst bei mir bleiben. Du darfst mich nicht verlassen. Es war zu wenig Zeit mit dir." Seine letzten Worte wurden begleitet von einem heftigen Schluchzen, das seinen Körper durchbebte. Mit letzter Kraft schloss sie sein Gesicht in ihre Hände. Tränen liefen zwischen ihre Finger.
"Weine nicht mein Liebster. Bedaure nicht was uns in diesem Leben nicht vergönnt war. Zu einer anderen Zeit in einem anderen Leben werde ich dich wieder finden. Trauere nicht um meine leere Hülle. Meine Seele geht mit und mein Herz wird für immer das Deine sein."
Er umschloss ihre Hände und küsste jede ihrer Fingerkuppen.
„Auch mein Herz soll dir gehören und ich..."doch sie verstand die Worte nicht mehr, die er sprach, sah nur wie seine Lippen sich stumm bewegten. Ein lautes Rauschen durchströmte ihre Ohren. Das letzte was sie sah, war der stumme, verzweifelte Schrei, der sich auf Mirels Lippen formte. Sie würde sein wunderschönes Gesicht vermissen. So sehr vermissen.
*
Fest an sich geklammert, trug Mirel seine Camilla den restlichen Weg. Seine Hände gruben sich tief in ihren Körper, voller Verzweiflung hielt er an ihr fest. Ihr Kopf wippte auf seinen Schultern, im Takt seiner Schritte. Er musste es schaffen, musste sie retten. Nichts anderes zählte mehr. Nie würde er sich verzeihen, sollte Camilla in dieser Nacht sterben. Nie würde sein Herz sich erholen von diesem Schmerz. Nie könnte er leben ohne sie.
Sie war seine Gefährtin, seine Seelenverwandte. Er hätte es früher erkennen müssen, hätte sie besser behandeln müssen. Sie beschützen müssen.
Doch er würde alles tun um sie am Leben zu halten. Ihr Herz würde wieder schlagen. Ihre wunderschönen Augen würden wieder das Licht des Tages erblicken. Selbst wenn er alles dafür riskieren musste. Selbst wenn er diesen Moment nicht erleben würde. Selbst wenn er dieses Leben nicht mit ihr teilen konnte. Doch wie Camilla gesagt hatte, in einem anderen Leben würden sie sich erneut begegnet. Dieses Leben jedoch wollte er ihr schenken. Dieses Leben sollte ihr gehören. Seine Muskeln brannten vor Schmerz und sein Atem ging nur noch stoßweise, als er endlich den Eingang zu seinem Versteck erblickte. Erleichterung wollte sich in ihm breitmachen, doch ein Blick auf die schwarzen Linien, die sich über Camillas Hals langsam ihrem Gesicht näherten, ließ dieses Gefühl schnell verschwinden.
Und doch, dachte er sich, gibt es noch eine Chance. Solange ihr Körper nicht vollends von den schwarzen Linien bedeckt war, hatte das Gift sich nicht vollständig ausgebreitet. Solange konnte er noch handeln. Sie war also noch am Leben, war nur ohnmächtig. Das war die Wahrheit. Es musste die Wahrheit sein.
Im Versteck angekommen legte er Camilla sanft auf das klapprige Bett. Schnell wandte er sich zur Tür und verriegelte sie. Um ganz sicher zu gehen, schob er noch den Tisch vor die Tür.
Mit angehaltenem Atem wandte er sich daran den Inhalt seines Rucksacks zu inspizieren. Seine Hände begannen vor Freude zu zittern als er realisierte, dass er alles hatte was er benötigte. Bedächtig kniete er sich neben Camilla nieder. Er wusste nicht ob sie noch atmete. Das Schwarz des Giftes hatte nun auch ihre Augen erreicht. Bald würde die Verwandlung vollständig sein. Für ein Gegengift war es nun zu spät. Doch es gab noch einen anderen Weg. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit und dennoch zögerte er.
Wenn sein Plan schief ging, dann würden sie beide sterben. Und auch wenn sein Plan gut ging, hatte er darin nie vorgesehen sein eigenes Leben zu retten. Doch er zögerte nur kurz, nur wenige Sekunden. Denn der Tod erschien ihm gütiger als ein Leben ohne sie.
Mit Nadeln und Schläuchen machte er sich ans Werk. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war es vollendet. Jetzt blieb ihm nichts als zu warten. Vorsichtig legte er sich neben Camilla, sein Gesicht blickte in das ihre. Seine Hände waren mit den ihren verschränkt. Zwischen ihren Körpern spannten sich die Schläuche. Die Nadeln hatte er dort eingestochen, wo große Hauptadern entlang flossen. Jetzt konnte er sehen wie sich der Schlauch der von Camillas Arm zu seinem führte, langsam mit schwarzem Blut füllte. Auch in ihren anderen Arm hatte er eine Nadel gestochen. Ihre spezielle Machart verhinderte, dass an dieser Stelle Blut abfloss. Nein. An dieser Stelle würde sein gesundes Blut in Camillas Arm fließen. Sie würde Leben. Gebannt starrte er auf seinen Arm. Langsam füllte sich der Schlauch und das schwarze Gift erreichte ihn, strömte in ihn ein. Stechender Schmerz durchfuhr ihn, als das Gift zum ersten Mal seinen Körper betrat. Beinahe hätte er sich die Nadel instinktiv aus dem Arm gerissen. Doch der Schmerz ließ schnell nach, zurück blieb nur ein stumpfes Pochen. Langsam färbten sich auch die dünneren Adern, die durch seinen Körper verliefen schwarz. Er blickte zu Camilla. Keine Veränderung. Noch immer durchzog das Gift ihren ganzen Körper. Es war noch nicht zurückgegangen. Es würde funktionieren, sagte Mirel sich. Es musste funktionieren. Es brauchte nur mehr Zeit. Nur mehr Zeit.
Mit Tränen in den Augen stahl er sich einen letzten Kuss von Camillas Lippen. Sie waren kalt. Bevor er seinen Kopf neben ihren auf das Kissen bettete und mit einem letzten Blick auf ihr Gesicht seine Augen schloss. Doch er wusste, die ihren würden sich wieder öffnen. Unverhofft stahl sich ein friedliches Lächeln in sein Gesicht.
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Daughter of Ash and Flames
FantasyEine geheime Prophezeiung. Ein uraltes Erbe. Ein erbarmungsloser Herrscher auf dem Gipfel seiner Macht. Eine letzte Chance auf Freiheit. Und eine Liebe gefangen zwischen Verrat und Hass. Ein tragischer Unfall reißt Camillas Mutter zu früh von ih...