Der nächste Tag brach stürmisch herein. Dicke Wolken bedeckten den Himmel und Regen peitschte gegen die Fensterscheiben. Ein eisiger Wind versuchte durch jeden Spalt in die Wohnung einzudringen und ließ Camilla unter ihrer Decke frösteln. Es war ein sehr ungewöhnliches Wetter, für diese eigentlich warme Jahreszeit. Doch in den letzten Tagen blieb ein solch ungewöhnliches Wetter leider keine Seltenheit. Und es bereitete ihr Unbehagen.
Sie beschloss sich mit einer warmen Tasse Tee in eine weitere Decke einzuwickeln und mit ihrer neuen Lektüre von Stolz und Vorurteil zu beginnen. An solch regnerischen Tagen fiel es ihr noch leichter als sonst in fremde Welten einzutauchen. Bücher waren ihr in schweren Tagen immer ein Trost gewesen und viele ihrer Charaktere waren Freunde oder Vorbilder für Camilla geworden. Von Natur aus war sie eher zurückgezogen und suchte selten die Gesellschaft anderer Menschen. Sie hatte sich immer anders Gefühlt und irgendwann hatte dieses Gefühl sie zu einem Außenseiter gemacht.
Doch über ihren Platz in der Gesellschaft hatte sie sich nie beschwert. Sie genoss es im Hintergrund stehen zu können. Auf der großen Bühne des Lebens hatte sie nichts verloren. Dort gab es keinen Platz für sie. Doch dies waren Gedanken die sie für den Moment verdrängen wollte. Lesen half ihr am Meisten dabei, also versank sie in der Geschichte von Elizabeth und Mr. Darcy und einer Zeit, in der das Leben anders war als heute.
Sie wusste nicht wie viele Stunden so vergingen, doch als sie das nächste Mal von den Seiten aufblickte war bereits der Abend hereingebrochen. Die Wohnung lag in tiefer Stille, was sie vermuten ließ, dass ihr Vater außer Haus war. Sie versteckte das Buch wieder sorgfältig unter ihrem Bücherregal und ging ins Wohnzimmer. Wie erwartet lag es verlassen da. Die Zeiger der kleinen Küchenuhr lagen fast auf Mitternacht. Wie schnell die Zeit vergangen war! Camilla griff nach ihrer Jacke und ihren Schuhen und machte sich auf den Weg. Vielleicht konnte sie ihren Vater in seiner Stammkneipe antreffen. Obwohl man natürlich hätte annehmen können der viele Alkohol an ihrem Geburtstag wären ausreichend gewesen. Sie seufzte und machte sich auf den Weg.
Von der Calle Francos ging sie über die Calle San Isidor zur Calle Peria und suchte jedes einzelne Lokal nach ihrem Vater ab. Nirgends konnte sie ihn finden und ebenfalls hatte keiner seiner Bekannten oder besser gesagt Saufkumpanen ihn heute gesehen. Trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf. Bald schon konnte sie vor Kälte ihre Finger nicht mehr bewegen und beschloss sich in einer nahegelegenen Taverne etwas aufzuwärmen und einen Teller Suppe zu essen.
Das "El Taurino" war ein kleiner, heruntergekommener Schuppen, in dem der Qualm so dicht stand, dass sie die Hand vor Augen kaum sehen konnte. Trotzdem wärmte ein kleines Feuer im Kamin den Raum und sie beschloss, dass dies ihren Ansprüchen für diese Nacht genügen sollte. Um die Straße im Blick zu haben wählte sie einen Fensterplatz in der Nähe des Feuers und bestellte bei der abweisend dreinblickenden Kellnerin einen Teller heiße Suppe. Draußen hatte es wieder zu Regen begonnen und sie war umso glücklicher sich im Warmen zu befinden. Vielleicht, so hoffte sie, würde ihr Vater auf seinem Weg nach Hause oder zu seinem nächsten Drink hier vorbeilaufen, dann konnte sie ihn von ihrem Platz aus sofort sehen. Doch ihre Hoffnung war nicht groß.
Die Kellnerin stellte einen dampfenden Teller voller Suppe vor ihr ab und langsam schlürfte sie die warme Mahlzeit, die die Kälte aus ihren Knochen vertrieb.
Immer wieder schaute sie dabei aus dem Fenster Richtung Straße, konnte jedoch ihren Vater nirgends entdecken.
Wo er sich wohl wieder rumtreiben mochte? Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen.
Nachdem ihre Suppe gegessen und ihr Getränk geleert war, sah Camilla ein das es keinen Sinn mehr machte, weiterhin auf ihren Vater zu warten. Hierher würde er vermutlich nicht mehr kommen. Er könnte jetzt überall sein. Vielleicht hatte sie Glück und er hatte in der Zwischenzeit bereits den Weg nach Hause gefunden.
Nachdem Camilla die Rechnung in der Kneipe bezahlt hatte, beschloss sie die Suche abzubrechen und zu warten bis ihr Vater nach Hause kam. Es war so dunkel, dass sie kaum zwei Meter weit sehen konnte und die Straßen Sevillas waren des Nachts kein sicherer Ort für eine Frau. Außerdem war da immer noch die Gefahr die von dem Wesen ausging und solange sie nicht wusste wer er war, wollte sie es nicht riskieren ihm noch einmal zu begegnen. Sie bemerkte jedoch, wie ihre Gedanken immer wieder zu dem Fremden glitten, der sie vor dem Angreifer beschützt hatte. Noch jetzt fühlte es sich an, als würde seine raue Stimme wieder und wieder durch ihren Kopf hallen.
In Gedanken wies sie sich selbst zurecht. Es gab weiß Gott wichtigeres womit sie sich jetzt beschäftigen sollte.
*
Erst nachdem er viele Meter gelaufen war, wagte er es sich umzudrehen. Im Dunst der Straßenlaternen sah er Camillas zierliche Gestalt wandeln. Der Regen fiel wie ein verhängnisvoller Schleier um ihre Silhouette. Die Dunkelheit umschloss sie wie ein riesiger Schatten, bis er sie gänzlich vor seinen Blicken verbarg. Sobald sie das Haus verlassen hatte, hatte er sich an ihre Fersen geheftet. Er wusste nicht was er sich davon versprochen hatte. Wenn sie das Buch tatsächlich hatte, würde sie es wohl kaum in einer Kneipe offen mit sich herumtragen.
Seine Füße trugen ihn beinahe wie von alleine in Richtung seines Verstecks, während seine Gedanken um die heutige Nacht kreisten. Immer wieder sah er Camillas Gestalt vor sich, umhüllt von Regenschauern und schattenhafter Dunkelheit. Sie wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Dabei musste er sich jetzt voll und ganz konzentrieren und durfte sich keinen Fehler erlauben. Vielleicht hätte er ihr bis vor ihre Haustür folgen sollen. Manchmal war die Ruhe trügerisch. Doch er konnte keine Gefahr spüren. Konnte es sein, dass sie einen Weg gefunden hatten sich vor ihm zu verbergen? So wie er sich sein Leben lang vor ihnen verbarg. Das war unmöglich. Die Folgen eines solchen Umstandes wären verheerend. Sein einziger Vorteil wäre damit zunichte gemacht.
Umhüllt von Schatten? Ein altes Kinderlied, das Eltern ihren Kindern in einem weit entfernten Land vorsangen um sie in die Betten zu bringen, schlich sich in seine Gedanken.
Hütet euch Kinder vor der Nacht.
Sie hat manch böses Wesen hervorgebracht.
Bricht draußen die Dunkelheit herein,
Kriecht schnell in eure Betten hinein.
Findet dort bis zum nächsten Tag Ruh,
Doch schaut, dass alle Fenster zu!
Sonst die Schatten der Nacht, das wandelnde Grauen euch aus euren Betten klauen!
Plötzlich begriff er. Camilla war in großer Gefahr! Dieses Mal war es seine Schuld. Er hätte ihr bis nach Hause folgen sollen.
Wie von Sinnen, rannte er los. Jetzt musste er schnell sein, sonst wäre Camillas Leben verwirkt. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bestätigt. Sie hatten einen neuen Weg gefunden sich zu tarnen. Doch damit würde er sich später beschäftigen. Jetzt gab es ein Leben zu retten.
Als er das Haus erreichte, lag die ganze Straße totenstill da. Nebelschwaden zogen vom Boden auf und eine fast undurchdringliche Dunkelheit legte sich über seine Augen. Mit den Händen um sich tastend suchte er seinen Weg durch die Dunkelheit die Treppen hinauf. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen daran, so dass er seine Umwelt langsam wahrnehmen konnte. Ein widerlicher Verwesungsgeruch schlug ihm ins Gesicht und ließ ihn würgen. Er hatte sich also nicht geirrt. Sie waren hier. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass sie alleine unterwegs waren und nicht in der Gruppe. Gegen mehrere von ihnen würden seine Kräfte versagen.
Plötzlich ein lauter Aufschrei. Er kam zu spät. Er rannte so schnell er konnte die Treppe hinauf und warf sich mit seiner Schulter gegen die Haustür. Splitternd gab sie nach. Die Wohnung lag in Trümmern da. Er stürzte in Camillas Zimmer und da sah er ihn. Ein Schatten, mit Augen so weiß wie Schnee, Pupillen so rot wie Blut und Klauen so scharf wie ein Schwert. Er hatte sie zum tödlichen Schlag gegen Camilla erhoben, doch als er ihn ins Zimmer stürzen sah, hielt er verdutzt inne. Es dauerte jedoch nicht lange, bis das Wesen die Situation begriff. Dann ertönte ein triumphierendes Lachen und er griff an.
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Daughter of Ash and Flames
FantasiEine geheime Prophezeiung. Ein uraltes Erbe. Ein erbarmungsloser Herrscher auf dem Gipfel seiner Macht. Eine letzte Chance auf Freiheit. Und eine Liebe gefangen zwischen Verrat und Hass. Ein tragischer Unfall reißt Camillas Mutter zu früh von ih...