Kapitel 10

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Das schlierige Schaufenster der Buchhandlung war gefüllt mit Neuerscheinungen und hinter der Theke saß Javen Rosenthal, ein alter Mann mit weißem, schütterem Haar über seine Geschäftsbücher gebeugt. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN. Camilla klopfte an die Scheibe und als der alte Mann sie erblickte sprang er auf und schloss ihr mit freudigem Lächeln die Tür auf.

„Camilla! Wie schön dich hier zu sehen. Du warst sehr lange nicht mehr hier. Ich fürchtete schon, die unendlich vielen Geschichten der Bücher vermögen dich nicht mehr in ihren Bann zu ziehen."

Zur Begrüßung umarmte der alte Mann das Mädchen so fest, dass sie sich sicher war einige Knochen knacken gehört zu haben. In seiner Familie mache man das so, sagte er immer. Sich mit einem Küsschen zu begrüßen oder zu verabschieden wie es die Spanier taten war für ihn so unvorstellbar und unwirklich wie ein Huhn, dass Jonglieren und Einrad fahren gleichzeitig beherrschte.

Im Laden selber war es furchtbar heiß. Umsonst mühte sich der kleine Ventilator hinter der Kasse ab etwas Abkühlung zu verschaffen. Der von ihm verursachte Windhauch wirbelte nur den Staub im Laden umher.

Auch die Kasse war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, wie fast alles im Laden. Trotzdem war die Atmosphäre erfüllt von einer versteckten Energie. Fast so als läge ein elektrisches Knistern in der Luft.

Señor Rosenthal beklagte sich darüber wie wenige Bücher die Leute in den letzten Tagen gekauft hatten und dass er wenn das so weiterginge, noch als Schuhputzer enden würde.

„Es ist aber auch kein Wunder, dass keiner mehr Bücher kauft. Mein Schaufenster ist voll mit Neuerscheinungen und doch ist keines dieser Dinger es Wert ein Buch genannt zu werden. Die Verlage suchen händeringend nach guten Manuskripten und jeder Dilettant, der zwei Sätze erfolgreich aneinanderreihen kann, wittert seine große Chance."

In dieser Art wurde das Gespräch noch eine Weile fortgeführt, bis Señor Rosenthal plötzlich mit einem Ausruf aufsprang.

„Wo ich dich schon einmal hier habe muss ich dir etwas sehr interessantes zeigen. Es wird dir gefallen" sagte er und verschwand kurzum in einem kleinen Raum hinter der Kasse.

Gleich darauf erschien er wieder im Verkaufsraum mit einem Buch in den Händen haltend, als wäre es heilig. Es hatte einen dunkelroten, abgefressenen Ledereinband. Der Buchrücken war mit goldenen Lettern verziert und feine Linien bildeten elegante Muster darauf. Die Seiten waren schon gelb und Camilla fürchtete sie würden unter der Berührung ihrer Hände zerbrechen.

Es war die schönste Ausgabe von Jane Austens Stolz und Vorurteil die sie jemals gesehen hatte. Und nie würde sie den Geruch vergessen, der von diesen Seiten ausging. Ein Geruch voll von geheimen Sehnsüchten und Träumen jener Menschen, die dieses Buch vor ihr in den Händen gehalten hatten. Von einer Geschichte, die sie in eine andere Welt entführen wollte. Von einer Geschichte, die ihr von einer anderen Zeit erzählen wollte.

Señor Rosenthals Stimme war es, die sie in die Realität zurückholte. „Ein wundervolles Buch nicht wahr. Der Einband ist recht gut erhalten, man muss bedenken wie alt das Buch ist". Seine Stimme klang ehrfürchtig.

„Wie alt?" hörte Camilla ihre eigene Stimme wie aus weiter Entfernung fragen.

„Mindestens einhundertfünfzig Jahre alt! Natürlich ist es kein Original aus der Zeit der Autorin und doch erzählt es uns von Tagen in denen Bücher keine Massenware waren, Zeiten in denen jedes Buch einzeln gedruckt und gebunden wurde, bevor man es auf eine lange Reise geschickt hat."

„Um Himmels willen Señor Rosenthal wie sind sie an solch einen Schatz geraten? Wenn sie es verkaufen würden, könnten sie endlich ihre Verwandten besuchen. Wie lange sie mir schon davon erzählen. Ach was rede ich denn da. Sie könnten jedes Land der Welt besuchen! Es wird sicher eine Menge Interessenten geben."

Doch der alte Mann schüttelte bedächtig den Kopf und drückte ihr das Buch sanft aber bestimmt in die Hände. „Dieses Buch hat dich auserwählt. Es ist nur für dich bestimmt."

Camilla beteuerte, dass sie das Geschenk nicht annehmen könnte und spürte doch gleichzeitig dass sie es nicht aus den Händen geben wollte. Wie Krallen hatte sie sie in das Buch geschlagen. Dieses Buch habe sie erwählt, sagte Señor Rosenthal und sie war bereit es wie ihre Seele und mit ihrem Leben zu hüten.

Welche Ironie, dass das Schicksal genau dies für sie vorgesehen hatte.

„Siehe es als dein Geburtstagsgeschenk an" zwinkerte er ihr zu.

„Ich habe meinen Geburtstag seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr gefeiert. Ich glaube sogar mein Vater hat ihn dieses Jahr vergessen. Genau wie im letzten Jahr. Dürfte ich sie fragen woher genau sie das Buch haben?". Für einen kurzen Moment war das Lächeln aus Javen Rosenthals Gesicht verschwunden und offenbarte tiefe Falten, die sein Gesicht zeichneten und eine ganz eigene Geschichte erzählten. In diesem Moment begriff Camilla vermutlich zum aller ersten Mal, seitdem sie den alten Herren kannte, dass es für Senor Rosenthal ein Leben vor Sevilla gegeben hatte. Erst jetzt begriff sie, wie viele Teile seines Lebens für sie im Verborgenen lagen, wie viele seiner Geschichten sie nie gehört hatte. Doch heute, das spürte sie, war er im Begriff ihr einen Teil dieser Geheimnisse um seine Vergangenheit zu offenbaren.

Gerade als sie dachte das Schweigen nicht mehr aushalten zu können, erhob sich Senor Rosenthal mit einem tiefen Seufzer aus seinem Stuhl und verschwand einen kurzen Moment in der Tür hinter der Kasse, die wie Camilla wusste zu einem kleinen Zimmer führte in dem eine Kochnische, ein kleines Schlafsofa und ein alter Fernsehapparat standen. Sie hörte wie Schubladen geöffnet wurden und das Klirren von Tassen und Löffeln. Kurz danach erschien er wieder im Verkaufsraum und stellte ein Tablett mit zwei Tassen Tee und etwas Gebäck auf der Kasse ab. "Mein liebes Kind, die Geschichte um die du mich gebeten hast ist eine lange und man kann sie nicht erzählen ohne reichlich Tee zum Befeuchten der Stimmbänder und genug Gebäck, so dass der Erzähler nicht von knurrenden Mägen übertönt wird." 

Mit diesen Worten nahm er ihr gegenüber auf seinem Stuhl Platz und versank abermals einige Sekunden in nachdenkliches Schweigen. Camilla wollte ihn nicht unterbrechen, denn sie Spürte, dass er nach dem richtigen Anfang für die Geschichte suchte. Sie wusste nicht womit speziell sie gerechnet hatte, als sie Senor Rosenthal die Frage nach der Herkunft des Buches gestellt hatte, doch ein inneres Gefühl sagte ihr, dass sie gleich mehr bekam als sie sich zu hoffen vermocht hatte.


Du machst mich so glücklich! Danke, dass du bis hierher gelesen hast. Das ist unglaublich. 

Bist du schon neugierig, was Senor Rosenthal zu erzählen hat?  

Ich freue mich über deine Meinung oder Anregungen <3

Hab noch einen wunderschönen Tag und viel Spaß beim Weiterlesen! 

Daughter of Ash and Flames Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt