~25. Schritt vorwärts~

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Sechsundzwanzigster Mai, 15:15 Uhr


Der erlösende Klang der Klingel hallte durch das gesamte Schulgebäude, während meine Klasse wie von der Tarantel gestochen aufstand, ihre Bücher und Federtaschen einpackte, und ich noch immer in Kafkas Kurzgeschichte »Das Schweigen der Sirenen« vertieft war.

Erst als das Gemurmel der Schüler verstummte und die Tür mit einem lauten Knall zugeschmissen wurde, schreckte ich aus meinen Gedanken hoch und bemerkte, dass ich die einzige Person im Raum war. Selbst unser Deutschlehrer war schon verschwunden.

Na super! Anscheinend sahen selbst die Lehrer nicht mehr ein, uns zu unterrichten, nachdem wir unsere Abiturprüfungen geschrieben hatten. Ich verstand sowieso nicht, warum sie uns nicht einfach frei gaben, immerhin machten das andere Schulen auch, aber so konnte ich im Deutschunterricht wenigstens noch ein paar Kurzgeschichten lesen, die die Lehrer als wichtig erachteten und die man als Schüler unbedingt gelesen haben sollte.

Außerdem war es heute sogar gut gewesen, dass ich in die Schule gemusst hatte, denn so hatte ich Liam ebenfalls daran erinnert, dass er Lux in ihre Grundschule bringen sollte. Ich war also nicht der einzige Mensch, der ab und zu mal Dinge vergaß, die man besser nicht vergessen sollte.

Zum Glück besaß Ethan ein Auto, was er uns leihen konnte und so hatten wir es doch noch geschafft, zuerst Lux und dann auch mich rechtzeitig in der Schule abzuliefern. Die Blonde war zwar weniger begeistert gewesen, aber ich hatte ihr versprochen, ihr ein riesengroßes Eis zu kaufen, wenn sie heute ganz fleißig lernen würde. Das glückliche Funkeln in ihren Augen war nicht zu übersehen gewesen.

Ich streckte mich, um meine müden Knochen wieder mit Leben zu füllen, die in den zwei Deutschstunden ziemlich eingerostet waren, lehnte mich gegen die Stuhllehne und ließ meinen Blick zur Uhr gleiten, die mir deutlich verriet, dass ich jetzt auch aufstehen und einfach gehen könnte. Doch stattdessen schloss ich meine grünen Augen und seufzte wohlig. Diese Ruhe war mir viel lieber, als das nervtötende Hupen und Gebrumme des Verkehrs, das mich draußen vor dem Schulgebäude erwarten würde.

Diese stille Einsamkeit im Klassenraum, der sonst immer voller Leben gefühlt war, schien sehr ungewohnt, ließ mich aber dennoch völlig entspannen.

In wenigen Wochen würde ich kein Schüler dieser Schule mehr sein. In wenigen Wochen würde ich gar kein Schüler mehr sein.

Dann fing der Ernst des Lebens an und ich musste mir eine Wohnung suchen, eine Arbeit finden und für mich selbst sorgen. Ich wollte Cat und Herrn Mason keinesfalls länger als nötig diese Umstände machen und erwartete von ihnen nicht, dass sie mich auch über meinen Abschluss hinaus bei sich wohnen ließen. Das war dann doch zu viel des Guten.

Ich hatte mir aber schon fest vorgenommen, hier irgendwo in der Nähe sesshaft zu werden, da ich es niemals übers Herz bringen würde, Cat und die anderen, aufgrund einer weiten Distanz, nicht mehr sehen zu können, gerade jetzt nicht, wo wir eine Beziehung angefangen hatten und noch immer im wunderschönen Rausch der Frischverliebten schwelgten.

Im Notfall könnte ich auch einfach den mir angebotenen Ausbildungsplatz von Frau Köhler annehmen. Zwar wollte ich immer einen Beruf ausüben, der etwas mit Büchern zu tun hatte, aber als Hobby lag es mir wohl einfach besser. Außerdem machte mir der Beruf als Florist sehr viel Spaß und das war ja alles, was zählte.

Noch einmal streckte ich mich und ließ meinen Blick über die vielen Zweiertische des Klassenraums gleiten.

Ich konnte mich noch genau an den Tag in der siebten Klasse erinnern, an dem ich diesen Raum zum ersten Mal betreten hatte. Angst und Neugier hatten sich in meinem Inneren breit gemacht und ich fühlte mich verdammt unwohl und fehl am Platz. Da ich ziemlich früh dran war, da ich fand, dass ich an meinem ersten Schultag am Gymnasium nicht zu spät kommen durfte, hatte ich die freie Platzauswahl.

Die Vergänglichkeit des Unendlichen II Harry Styles Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt