... Auf der Stelle treten ...

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Siebenundzwanzigster Mai, 05:09 Uhr


Der Geruch des Pfefferminztees erreichte meine Nase, als ich auf der Couch im Wohnzimmer saß und meinen Körper in eine weiche, beigefarbene Decke kuschelte.

Der warme, flauschige Stoff berührte mich an der Haut, die nicht von Kleidung bedeckt war, und erinnerte mich unwillkürlich an meine Kuscheldecke, die ich als kleiner Junge gehabt hatte. Ich hatte sie von meiner Mutter geschenkt bekommen. Zu meinem ersten Geburtstag. Sie war mein nächtlicher Begleiter und Beschützer bis in die erste Klasse gewesen, ehe ich sie verloren hatte. Tagelang hatte ich geweint. Und meine Mutter hatte mich getröstet, oder es jedenfalls versucht.

»Harry.«

Ich hob meinen Blick, der bis dahin am aufsteigenden Dampf des Tees hängen geblieben war, und schaute in das ernste, jedoch auch gleichzeitig sanfte Gesicht des Mannes mittleren Alters, welcher vor mir saß.

Meine grünen Augen blickten ihm müde entgegen. In der restlichen Nacht hatte ich kein Auge zubekommen. Ich hatte mich noch nicht mal getraut, meine Augen überhaupt zu schließen. Zu groß war die Angst vor den Bildern, die mich erwarten würden. Den Bildern, in denen ich all die Dinge verarbeitete, die ich in meinem Tagesverlauf unterdrückte.

Ich war kein Mensch, der seine Gefühle oder Erlebnisse einfach verdrängen konnte. Sie kamen in Form von Träumen oder Gefühlsausbrüchen in mir wieder zum Vorschein. Den Traum mit meinem Vater und meiner Mutter aus der letzten Nacht, hatte ich in meiner Anfangszeit als depressiver Teenager ständig gehabt. Fast jede Nacht hatte ich in die toten Augen meiner Mutter geblickt oder in das grinsende, kranke Gesicht meines Vaters. Der Verlauf des Traumes war zwar immer anders gewesen, seine Geschichte und sein Ausgang ebenfalls, aber dennoch reichte es aus, um mir den Schlaf zu rauben.

Jedenfalls oft. Nicht immer, aber oft.

»Gibt es da eine Sache, die du mir erzählen möchtest?«

Herr Mason saß mir gegenüber auf einem Ledersessel, während ich ihn anstarrte und wie in Trance mit dem Kopf schüttelte.

Er nickte.

»Weißt du, Harry. Ich mag für dich noch ein Fremder sein, da du mir sicher nicht so viel anvertraust, wie Kitty oder deinen Freunden. Aber ich würde dich dennoch bitten, dir bewusst zu werden, dass Panikattacken nicht auf die leichte Schulter zu nehmen sind. Erst recht nicht in diesem Ausmaße.«

Er unterbrach sich kurz und trank einen Schluck seines Tees. »Earl Grey«, wie jeden Morgen und Abend.

»Dir liegt etwas Gewaltiges auf der Seele. Und wie ich die Sache einschätze, hat diese mit deinen Eltern zu tun. Jedenfalls würde das die Tatsache erklären, warum du nicht mehr nach Hause möchtest.«

Ich nickte. Leugnen brachte sowieso nichts mehr. Dafür steckte Herr Mason schon viel zu tief in der Angelegenheit drin. Das tat er schon, seit ich hier eingezogen war.

»Verstehe, deine Eltern also. Und explizit dein Vater, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.«

Er stellte seine altmodisch aussehende Tasse, inklusive altmodisch aussehende Untertasse wieder auf den Couchtisch aus Glas und platzierte seinen Daumen und seinen Zeigefinger nachdenklich an sein Kinn. Jetzt wusste ich, woher Cat sich diese Geste angeeignet hatte.
Ich nickte, um ihm zu verdeutlichen, dass seine Erinnerung korrekt war.

»Als ich mit deinem Vater für ein paar Sekunden telefoniert hatte, um ihm zu sagen, dass du derzeit bei uns lebst, hat er für mich einen ziemlich netten Eindruck gemacht. Er schien sich jedenfalls Sorgen um dich gemacht zu haben, Harry.«

Die Vergänglichkeit des Unendlichen II Harry Styles Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt