~36. Schritt vorwärts~

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Fünfter Juni, 08:30 Uhr


Meine Muskeln fühlten sich tonnenschwer und gleichzeitig taub an, als ich aus dem Raum in meinem alten Schulgebäude trat und mir die Worte der Lehrer im Kopf herumschwirrten. Wie ein Echo, welches meterweit weg war. Gedämpft und schallend.

Herzlichen Glückwunsch, Mr. Styles. Sie haben ihr Abitur bestanden.

Ich ging einen Schritt über den Laminatboden, meine Augen starr an die Wand gerichtet, mit meinen Gedanken noch immer nicht in der Realität angekommen. Ich überlegte, ob die Worte, die sich in meinem Kopf abspielten, tatsächlich echt waren, oder bloße Einbildungen meiner Selbst. Die Erkenntnis traf mich wenige Sekunden später härter, als die Bälle im Sportunterricht.

Ein breites Grinsen suchte mein Gesicht heim und mit einem Satz sprang ich fröhlich johlend in die Luft und ließ all meine innerlich angestaute Erleichterung hinaus.

Etliche »Ja« verließen meine Kehle, bevor ich einen peinlichen Freudentanz aufführte und innerlich hoffte, dass mich keiner zu sehen bekam.

Ich hatte es geschafft! Ich hatte es tatsächlich geschafft!

Hatte mein Abitur durch alleinige Kraft bekommen. Trotz meines Aussetzers der letzten Jahre. Trotz des kleinen schwarzen Loches in meinem Lebenslauf, das nun zur Vergangenheit angehörte. Ich hatte jetzt meine Hochschulreife und etwas erreicht, was nicht jeder erreichte. Hatte die Berechtigung zu studieren. Zwar hatte ich nicht vor, eine Universität oder Fachhochschule zu besuchen, geschweige denn überhaupt ein Student zu werden, jedoch machte mich die Erkenntnis glücklich und stolz, dass ich doch etwas auf die Reihe bekam und kein nutzloser Versager war.

Und während ich vor Glückshormonen strotzend zum Klassenzimmer ging, dachte ich an meine Mutter und ihr stolzes Lächeln, welches am heutigen Tage auf ihrem Gesicht gewesen wäre. Sie hätte mir durch die Haare gewuschelt und gesagt, dass ich das toll gemacht habe und sie immer an mich geglaubt hat. Sie hätte eine große Feier veranstaltet, ihre Freundinnen eingeladen und damit angegeben, was für einen tollen und intelligenten Jungen sie doch großgezogen hat. Es hätte eine große mit Zuckerguss überzogene Torte gegeben, viele Glückwünsche und eine peinliche Girlande, die man sonst bloß von Kindergeburtstagen kennt. Unser Haus wäre voller Leben gewesen, dynamisch und ausgeglichen. Und nicht so leer und trostlos wie in diesem Augenblick.

Als ich bemerkte, dass ich schon wieder mit meinen Gedanken abschweifte, schüttelte ich mit meinem Kopf und glitt mit meiner Hand durch meine Locken.

Ich durfte nicht immer an das denken, was sein könnte, sondern im Hier und Jetzt leben. Es brachte mir nichts, weiter in der Vergangenheit zu leben und früheren Situationen nachzutrauern. Sonst würde ich niemals davon loskommen, könnte mir kein neues Leben aufbauen. Würde bloß irgendwann wieder in meinem Loch versinken, und das wollte ich keinesfalls. Ich besaß endlich die Basis für das Leben, was ich gerne führen wollte. Hatte einen Abschluss, Freunde und eine potenzielle Partnerin fürs Leben. Und das reichte mir aus, um endlich glücklich sein zu können.

Grinsend blieb ich vor dem Klassenzimmer stehen, betrachtete das dunkle Holz der Tür und legte meine rechte Hand auf die Klinke. Das würde sehr wahrscheinlich das letzte Mal sein, dass ich in dieses Zimmer eintrat. Das letzte Mal, dass ich den Kreidestaub einatmete. Das letzte Mal, dass ich vom Fenster aus den kleinen Park betrachten konnte.

Ich war ab dem heutigen Tage offiziell kein Schüler dieser Schule mehr. Würde meine Klassenkameraden zum letzten Mal sehen, ehe jeder seiner Wege ging. Ich hatte nur noch heute Zeit, um ihnen all das zu sagen, was ich ihnen sagen wollte. Automatisch dachte ich an die Briefe, die ich jedem einzelnen von ihnen geschrieben hatte, öffnete die Tür, trat ein und wurde sogleich von siebzehn Augenpaaren empfangen. Die musterten mich penetrant, doch auf keine unangenehme Art und Weise.

Die Vergänglichkeit des Unendlichen II Harry Styles Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt