44 - Die Fähigkeit des Laufens

12.9K 575 40
                                    

2 Wochen später

Milas POV

Langsam öffne ich die Augen und muss kurz darauf mehrmals blinzeln. Das grelle Licht im Krankenhaus bringt mich irgendwann noch einmal um. Haha.

Aber ich wache auf und das ist schon einmal beruhigend.
Dr. Max konnte sein Versprechen halten und hat tatsächlich ein Spenderherz gefunden, weshalb ich auch, nachdem sie die Geräte abgestellt haben, weiterleben konnte. Ich habe die dreißig Tage kaum etwas mitbekommen. Manchmal habe ich Stimmen gehört. Die Stimmen von Ben, Sophie, Tom oder von meinen Eltern. Es war die reinste Hölle in dieser Zeit, in der ich etwas mit bekam, nicht antworten zu können, nicht sagen zu können, dass es einem gut geht. Sich nicht bewegen zu können.

„Guten Morgen Prinzessin!" kommt es plötzlich aus der Tür und sofort schleicht sich ein Grinsen auf mein Gesicht. Ich bin unglaublich froh darüber, dass Ben mir die ganze Sache nicht übel genommen hat. „Wie geht's dir heute?" fragt er und kommt näher zu meinem Bett. „Besser" sage ich und werde somit gleich wieder erinnert. Ben und ich haben uns sehr lange aussprechen müssen. Nachdem er mir dann erzählt hatte, dass ich eine Fehlgeburt hatte, hatte ich das Gefühl in einer Schockstarre gefangen zu sein. Die Tatsache, dass ich durch meine Leichtsinnigkeit unser Baby verloren habe, sitzt immer noch tief in meinen Knochen. Jedoch auch die Erkenntnis, dass ich nicht mehr laufen kann. Ich bin nicht gelähmt, habe aber die Fähigkeit des Gehens verlernt. Ich kann es wieder erlernen, aber ich fühle mich dabei wie ein kleines Kind. Was mich wieder auf unser Kind zurück führt. Wann hätte es die ersten Schritte gemacht und so weiter. Es ist ein ewiger Teufelskreislauf.

„Hey, wir haben darüber gesprochen! Du bist nicht schuld daran, dass wir es verloren haben!" sagt er als hätte er meine Gedanken gelesen. Ben beugt sich ein Stück zu mir vor und gibt einen kurzen, aber innigen Kuss. Er hat mit Absicht „wir" gesagt, damit ich aufhöre mir Vorwürfe zu machen. „Mila!" sagt er warnend und ich muss wieder leicht grinsen. Im Moment bin ich ans Bett gefesselt, da ich zu stur bin mit der Physiotherapeutin zu sprechen. Klar, ich sehe es meinen Eltern, Sophie- Ich sehe in den Augen, der Personen, die ich liebe, zum einen die Erleichterung und zum anderen die Verzweiflung. Sie sind froh, dass ich lebe-oh man, dass ich das einmal sage, hätte ich auch nicht gedacht- aber sie wollen auch nur mein bestes. Aber mein Kopf ist voll! Ich muss mich mit so vielen Dingen gleichzeitig rumschlagen und weiß nicht, wo vorne und hinten ist! Immer wieder mache ich mir über neue, mir unbekannte Dinge, Sorgen und Gedanken! Ich will es ja allen irgendwie gerecht machen, aber ich werde immer wieder schmerzlich mit anderen Dingen konfrontiert.

„He Mila... Wie wäre es wenn du es heute noch einmal mit der Physiotherapie versucht. Wir wollen doch alle nur dein Bestes, aber-" „Wenn du es nicht versucht, kannst du auch nicht wissen, wie es ist! Ich weiß!" Immer wieder das Gleiche! Ich will es ja, aber irgendetwas ist in meinem Kopf, dass es verhindern will. Ich spüre, wie er mich näher zu sich zieht und mir dann einen federleichten Kuss auf die Schläfe haucht. Sie meinen es doch nur gut! „Du wirst in zwei Tagen entlassen und wir haben am Freitag unser Abschlusskonzert. Ich hoffe doch, dass du mitkommst!" spricht Ben plötzlich. Abschlusskonzert? „Aber ihr hattet doch schon euer Abschlusskonzert?" frage ich ihn. „Es ist ein Abschlusskonzert vom Abschlusskonzert!" grinst er. Er weiß, dass das überhaupt keinen Sinn gemacht hat, was er da gerade gefaselt hat. „Klar..." sage ich gedehnt. Der nimmt mich doch bestimmt auf den Arm, doch er nickt nur begeistert und lässt das Thema fallen.

„Oh mein Gott, Mila!" „Du lebst!" kreischen auf einmal zwei super hohe Stimmen. Ich war kurz vorm Einschlafen. Menno! „Ich gehe dann mal" grinst Ben und lässt mich alleine auf dem Bett zurück. Kann der auch mal aufhören zu grinsen? Seine gute Laune ist ja fast ansteckend.

Als ich meinen Kopf in Richtung Tür drehe, sehe ich tatsächlich Emily und Lina. Irgendwie bin ich auch froh, dass sie vorbei sehen, denn ich bekomme meist nur Ben zu Gesicht. Sophie, Nathan, Tom oder meine Eltern versuchen immer mal wieder rein zuschauen, doch sie sind auch berufstätig, weshalb ich es ihnen nicht übel nehmen kann.

Mehr als mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt