Kapitel 31 Der Sturm

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Es ist noch stockdunkel.Sechs Uhr morgens. Und es geht auf den Winter zu. Natürlich ist esdunkel. Es ist Alice' erster Tag als Zeitungsausträgerin, aber vielMotivation hat sie nicht. Aber wenigstens hat sie jetzt etwas zu tun.Gelangweilt stopft sie Zeitung um Zeitung in die Briefkästen. DieStraßen sind Menschenleer. Nicht einmal Vogelgezwitscher ist zuhören.

„Die Ruhe vor demSturm", murmelt Alice vor sich hin. Eine weitere Zeitung findetihren Weg in einen Briefkasten. Ihr Atem bildet kleine, weißeWölkchen vor ihrem Mund, ihre Hände sind blau vor Kälte. Sie reibtsie aneinander, aber es hilft nicht wirklich.

Eine streunende Katzerennt über die Straße und verschwindet hinter der nöchsten Ecke.Der eisige Wind wirbelt eine leere Brötchentüte über den Gehweg.Sie knistert und knirscht, als Alice drauftritt. Ihre dunklen Haarehat sie zusammengebunden, aber einzelne Strähnen fallen ihr trotzdemins Gesicht. Die Straßenlaterne über ihr flimmert.

„Um Ihren Job beneideich Sie wirklich nicht", hört Alice plötzlich eine alte,weibliche Stimme hinter ihr. Sie dreht sich um. Da läuft eine alteFrau mit einem kleinen Hund an der Leine und lächelt sie freundlichund etwas mitleidig an.

„Ich brauche IhrMitleid nicht", gibt sie trocken zurück und wirft die zeitung inden Vorgarten, da sie keinen Briefkasten finden kann.

„Ich wollte Sie nichtbeleidigen", meint die alte Frau unsicher und hustet. Es ist einrasselnder Husten. Einer, der nach nichts Gutem klingt.

„Tut mir Leid",entschuldigt sie sich schließlich, aber der alten Frau ist die Luftausgegangen, deshalb ist es kaum mehr als ein Hauchen.

Genervt stöhnt Aliceauf. „Stecken Sie sich Ihre Entschuldigung sonst wohin und lassenSie mich einfach in Ruhe."

Die alte Frau nickt undgibt noch ein rasselndes Husten von sich. Sie will weitergehen, aberein weiterer Hustenanfall hält sie auf.

„Ähm.. ich.. meinenSie, dass..."

„WAS ist denn jetzt schon wieder?!", fährt Alicesie an. Alice wird warm. Heiß.

Die alte Frau hat kaummehr Stimme: „Können Sie mir bitte helfen? Ich muss mich... einenAugenblick hinsetzen.

Dieses Feuer...

„Sicher", gibt siegenervt von sich, nimmt der Frau die Leine aus der Hand und stütztsie. Der kleine Hund knurrt Alice zuerst an und winselt verängstigt,als sie ihm einen wütenden Blick aus den lodernden Augen zuwirft.Sie führt die Frau bis zu einer Bank und hilft ihr sich hinzusetzen.„Danke", haucht diese.

Loderndes Feuer!

Sie lacht kurz auf, waseher nach einem Husten klingt: „Sie müssen wissen, junge Frau,erst kürzlich dachte ich, dass... na ja, dass mein Mann noch vor mirsterben würde. Er kam einfach nicht nach Hause... Ich dachte, erwäre... Na ja... und jetzt sitze ich hier und weiß nicht, ob ich eswieder nach Hause schaffe."

„Interessiert michnicht."

„Was habe ich Ihnendenn getan?"

„Keine Ahnung, was IhrProblem ist, aber ich helfe Ihnen doch. Und statt einfach danke zusagen, labern Sie mich zu."

„Sie sind kein sehrlebensfroher Mensch, was?" Es ist keine Frage, das weiß Alice. Esist eine Feststellung.

„Nein", antwortet sietrotzdem.

Die Frau nickt nur. IhrHusten scheint sich einigermaßen beruhigt zu haben.

Es brennt!

„Ihre Hand blutet."

„Tatsächlich?"

„Ja, also... Warumstechen Sie denn Ihre Fingernägel in ihre Hand?"

„Weil ich genau weiß,ob Sie es nach Hause schaffen werden."

„Bitte was?"

Alice beugt sich zumverängstigten Hund runter und krault ihn hinter den Ohren.

„W-was meinen Sie denndamit?"

Alice tastet nach denMesser und rammt es blitzschnell in den Hund. Ein leises, ersticktesQuieken gibt er noch von sich, bevor er erschlafft. Die alte Frauschlägt sich beide Hände vor den Mund.

„Ich meine, Sie kommennie wieder nach Hause", flüstert Alice.

„HI-" Weiter kommtdie Frau nicht. Alice presst ihr eine Hand auf den Mund, mit deranderen stößt sie ihr das Messer ins Herz. Fest schaut sie in dievor Schreck geweiteten, blauen Augen, die immer mehr an Lebenverlieren. Schließlich sackt sie in sich zusammen. Gründlich wischtAlice das Messer an der Jacke der Frau ab und steckt es weg.

Sie verteilt weiter ihreZeitungen. Ganz ruhig und entspannt. Das Feuer ist erst einmalberuhigt. Aber nicht für lange Zeit, wie die Erfahrung gezeigt hat.

Als sie fertig ist, machtsie sich seelenruhig auf den heimweg und betritt gut gelaunt dasHaus.

„Ich bin wieder da!"

Keine Antwort.

Sie zieht sich Stiefelund Mantel aus und geht in die Küche. Dort sitzt Alexander mit einerTasse Kaffee in der hand und starrt die Wand an.

„Hallo?", fragtAlice.

„Alice", meint er,vollständig aus seinen Gedanken gerissen, „Wie war dasZeitungsaustragen?"

„Langweilig", lachtAlice, „Und kalt, aber was solls. Ich war schnell, oder?"

Alexander nickt.

„Ist was?", fragtAlice und nimmt sich auch eine Tasse.

„Eine tote, alte Frau."

„Das ist traurig, aberna und?"

„Es ist nichtirgendeine alte Frau. Es ist die Frau von dem Mann, den Luminaletztens gerettet hat."

„Tatsächlich?",meint Alice überrascht.

„Ja."

„Ok, Lumina istbestimmt am Boden zerstört, aber was ist dein Pronlem?"

Er schweigt.

„Ist es, weil du denMörder immer noch nicht kennst?"

„Nein."

„Was ist es dann?"

„Es ist, weil ich denMörder kenne... Oder sollte ich sagen 'die Mörderin'?"

Alice erstarrt.

„Was?"

„Tuh nicht so dumm!"

„Ich..."

„DU bist der Mörder,Alice!"

„Wie kannst du eswagen?!"

„Es ist die WAHRHEIT!"

„Du hast keineBeweise!"

„Dann leere deineTaschen!"

„Ok."

Sie leert ihreHosentaschen.

„Auch dieJackentaschen", fordert Alexander.

Schulterzuckend gehtAlice zur Garderobe und greift nach ihrem Mantel.

„Na los, zeig es mir!"

„Ok", meint Aliceruhig – und bevor er reagieren kann, sticht sie ihm das Messermitten ins Gesicht. Sie zieht es raus und sticht es ihm ins Herz. Aufseinem Gesicht liegt noch immer der erstaunte, überraschteGesichtsausdruck. In seinen Augen spiegelt sich keine Angst wieder,wie bei ihren anderen Opfern. Nur Überraschung. Als er anfängt zukippen, reagiert Alice blitzschnell und wickelt ihn in seine Jacke.Kein Tropfen Blut ist auf den Boden gelangt. Sie schaut sich um.Keiner ist da. Eilig zerrt sie die Leiche in den Garten. Sie fülltdie Jackentaschen mit Steinen und wirft Alexander schließlich in denrieseigen Gartenteich.

Dann geht sie zurück insHaus, säubert ihr Messer und untersucht alles auf Blutspuren. Keinezu finden. Zufrieden geht sie in die Küche und macht sich Frühstück.Einige zeit später kommt Inga herein und hilft ihr. Sie fragt nochkurz nach Alexander, aber Alice zuckt nur mit den Schultern.

Rising EvilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt