Kapitel 27 Inneres Feuer

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Entspannt atmet Alice diekühle Herbstluft ein. Hinter sich hört sie noch die Tür zu HaukelsBüro zuschlagen. Während des Gesprächs hatte sie kurz überlegt,ob er wirklich der Richtige für den Job sei. Er stellt zu vieleFragen, aber vorerst würde sie sich mit ihm begnügen. Sie hat auchgrößere Probleme. Da ist etwas, das sie innerlich zerfrisst und sieQuält, wie ein Dorn im Fuß. Es quält sie, bis sie verrückt wirdund alles tun würde, damit es aufhört. Da ist dieses unersättlicheVerlangen in ihr. Das Verlangen nach Macht, nach Blut, nach Mord. Undnun lässt sie es zu. Es durchströmt sie wie Adrenalin und ihr Pulsbeschleunigt sich. Sie biegt in eine unbelebte, kleine Seitenstraßeein und schaut sich um. Da läuft ein alter Mann ganz alleine mitseinem Spazierstock die Straße entlang. Er ist sehr langsam. Viel zulangsam. Alice bewegt sich auf ihn zu, wird schneller und stellt ihmein Bein, während sieihm den Spazierstock aus der faltigen,zittrigen Hand reißt. Mit einem hilflosen Aufruf fällt der Alte zuBoden. Langsam versucht er sich aufzurichten. Dabei dreht er den Kopfin Alice' Richtung und schaut ihr in die Augen. Alice hat dasGefühl, dass er ihr direkt in die Seele blickt.

„Sie sind das, oder?",fragt er mit kratziger, erschöpfter Stimme.

„Wer?", fragt Aliceangriffslustig. In ihren Augen sind nur Hass und grenzenlose Mordlustzu sehen.

„Der Mörder. DerMörder, den alle suchen. Nur hätte wahrscheinlich keiner gedacht,dass es eine schöne junge Frau ist."

„Nein", antwortetAlice und ihre Stimme ist kalt wie Eis, „Wahrscheinlich nicht. Undauch Sie werden es keinem mehr erzählen können." Mit einempsychopathischen Lächeln kommt sie auf den am Boden liegenden, altenMann zu und beugt sich zu ihm hinab.

„Sie werden mich jetztumbringen?", fragt er und Alice kann seine Angst förmlich spüren.

„Nachdem Sie michentlarvt haben, muss ich das doch", flüstert sie.

„Nein, bitte nicht",fleht der Alte, „meine Frau und ich sind ganz allein. Sie hat Krebsund wenn ich sterbe, ist sie ganz allein."

„Und warum ist das meinProblem?", fragt Alice desinteressiert.

„Bitte, haben Sie einHerz. Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit. Haben Sie Mitleid."

„Wie soll ich sichersein, dass Sie dicht halten?"

„Ich verspreche esIhnen."

„Das ist nicht genug."

„Mehr habe ich nicht.Bitte!"

Aliceholt mit demSpazierstock aus und der mann hebt abwehrend seinen Arm. Dabeischiebt sich sein Ärmel nach oben und Alice stockt mitten in ihrerBewegung. Sie starrt den Arm an. Der Alte, der die Augen zugekniffenhatte, öffnet sie nun vorsichtig und schaut Alice an. Langsam drehter seinen Arm, um zu sehen, was sie aus der Fassung gebracht hatte.Dann versteht er.

„Ich weiß wie es ist,eingesperrt zu sein, gefoltert zu werden und sich zu fragen, ob dieseHölle je ein Ende haben wird", flüstert sie mit glasigen Augenund eine einzelne Träne läuft ihr das Gesicht herab. Sie reicht demMann die Hand und hilft ihm auf. Dann gibt sie ihm den Stock zurückund dreht sich um.

„Sie haben keineBeweise. Kein Mensch wird Ihnen das glauben. Ich war nie hier. Ichwar den ganzen Tag bei meinem Ehemann. Wir sind uns nie begegnet",meint sie ausdruckslos und geht weiter.

„Auch wenn das derfalsche Weg ist, Fräulein, wünsche ich Ihnen, dass Sie IhrenFrieden finden! Jeder hat ein Recht auf Glück. Aber bitte versuchenSie, Ihr Glück in der Liebe zu finden, denn der Hass hält nurSchmerz für Sie bereit. Ich weiß, wovon ich rede!"

Alice wirblet herum: „Ichhabe ein Recht auf Genugtuung!"

Der Alte nickt: „DerWunsch nach Gerechtigkeit ist völlig normal, aber Rache wird Sienicht glücklich machen, glauben Sie mir."

„Sie wissen gar nichtsüber micht!", schreit Alice hysterisch, „Ich kann NIEMALSglücklich werden! Dafür haben sie gesorgt!"

„Wer sind sie?"

„Meine Eltern!"

„Ihre Eltern haben Sieeingesperrt und gefoltert?!"

„Vier Jahre lang",haucht Alice.

Der Mann schaut siemitleidig an. Dann rückt er seinen Hut zurecht und geht weiter.Alice schaut ihm noch lange nach, während ihr Tränen über dasGesicht laufen. Das ist das erste Mal, dass sie darüber gesprochenhat. Dass sie ihre Gefühle zugelassen hat. Dass sie Schwächegezeigt hat. Sie schnieft in ein Taschentuch und macht sich auf denWeg nach Hause. Ihre Mordlust ist verflogen, aber der Hass istgeblieben. Er wird immer lodern. Wie ein Feuer, dem niemals derBrennstoff ausgeht.

Brennend, lodernd,zerstörerisch.

Tödlich.

Rising EvilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt