Ich nickte und überlegte, wo ich anfangen sollte. „Nachdem ihr gegangen seid, lag Chris noch eine Woche im Krankenhaus. Danach habe ich ihm Reiten beigebracht. Also wie man fein reitet und so. Nebenbei habe ich mich um eure Pferde gekümmert und Felicitas weiter trainiert. Das war so mein Alltag. Vollmond war schrecklich. Louisa hat es einfach nicht so richtig verstanden, was mit mir vorgeht. Irgendwie habe ich sie dann alles vergessen lassen. Jedenfalls weiß sie nichts mehr über mich und mein Geheimnis. Naja. Und dann war Nachtarena. Den Teil kennst du ja. Jedenfalls kam ein paar Tage später dann Mario, der Felicitas mitnahm und mir dafür Jovito gab. Am ersten Tag lief alles super, doch am nächsten Tag holte ihn sein Trauma wieder ein. Tja und das war heute. Ach ja, was ich dir noch erzählen wollte." Ich holte tief Luft.
„Morendo hat mir in der Vollmondnacht so einiges erzählt. Über die Frau, nach der er benannt wurde und ihr Schicksal. Weil, Marion, ich kann keine Kinder kriegen. Ich kann nicht lieben.", meine Stimme brach ab und ich schluckte meine aufkeimenden Emotionen mühevoll herunter. Meine Freundin blickte mich verständnisvoll an, ehe sie versuchte, mich zu trösten: „Aber das kannst du doch.", sagte sie leise. „Du liebst Pferde, du liebst deinen Job hier, du hast Freunde. Es kann also nicht stimmen."
Ich schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Noch habe ich das alles, aber was ist, wenn ich alt werde? Ich werde euch überleben. Ich werde zusehen müssen, wie ihr sterben werdet und ich noch so viel Zeit vor mir habe. Und das auch noch allein, weil es nie einen Mann an meiner Seite geben wird. Und daran ist sie, die Frau, von der Morendo erzählt hat, gestorben. Weil sie es nicht ausgehalten hat. Weil sie allein war. Marion, ich weiß nicht ob ich das schaffe." Ich schloss gequält die Augen und sie umarmte mich zögernd.
„Denke nicht an morgen, lebe aufmerksam Augenblick. Wir alle werden sterben. Und wenn wir alle jetzt schon daran denken, könnten wir nicht leben. Versuche nicht daran zu denken, Hanna. Du schaffst das.", murmelte sie in mein Ohr. Einmal holte ich tief Luft und schob dann das Thema bei Seite. Nach einer Weile stand Marion auf und reichte mir die Hand. „Alles klar, Hanna?" Ich versuchte ein wenig zu lächeln und stand auf. „Hilfst du mir mit Jovito?", fragte ich schließlich, um das Thema zu wechseln.
Marion nickte begeistert. „Na klar, immerhin ist er dein eigenes Pferd. Was hast du denn vor?" „Ich möchte ein Stückchen spazieren gehen, damit er die Gegend besser kennenlernt.", entschied ich kurzerhand und ging zu seiner Box. Als ich versuchte, ihn aufzuhalftern, machte er mir allerdings einen Strich durch die Rechnung. Er schmiss den Kopf hoch und wehrte sich nach Leibeskräften, aufgehalftert zu werden.
„Nein! Lass mich in Ruhe! Hilfe! Lass mich einfach in Ruhe! Ich habe dir nie etwas getan!" Seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen und langsam begriff ich. Er würde mich auf gar keinen Fall an sich heran lassen. Dafür steckte das Trauma in ihm zu tief fest. Es war nicht so, dass er wie Felicitas keine Lust auf Menschen hatte, sondern er hatte Angst.
Verzweifelt sah ich ihn an. „Du brauchst keine Angst haben. Ich versuche nur, dir zu helfen!" Bei meinen Worten fing er an zu steigen und ging nun ins Drohen über. „Was ist es!?", fragte er frei heraus mit einem fuchsteufelswilen Blick. Er meinte mich. Zuerst wollte ich etwas sagen, hielt mich dann aber zurück, denn das Es schmerzte. Es würde ihm nur noch mehr Angst machen. Langsam verließ ich seine Box. Meine Augen brannten. Ich war den Tränen nahe. Noch nie war mir so etwas passiert: Ein Pferd, das so traumatisiert war.
Just in diesem Augenblick bog zum Glück Marion um die Ecke. „Noch nicht fertig, Hanna?", fragte sie lächelnd. Ich drehte mich um und als sie mein Gesicht sah, verschwand ihr Lächeln. „Was ist los?", wollte sie sofort wissen. „Versuch du mal, ihn aufzuhalftern. Mich lässt er nicht an sich heran. Ich bin für ihn wie ein Alien. Etwas Unbekanntes. Etwas vor dem er fliehen muss, aber nicht kann. Du bist ein normaler Mensch. Vielleicht lässt er dich in seine Nähe.", sagte ich leise, um Jovito nicht noch mehr zu verängstigen.
Marion nahm das Halfter aus meiner Hand und drückte mir Thorgal, der geduldig am Strick auf uns wartete, in die Hand. Vorsichtig näherte sie sich Jovito und redete leise mit ihm. Er zuckte zwar heftig zusammen, als sie seinem Kopf näher kam, blieb jedoch zitternd stehen. Mit ruhigen Worten, die er nicht verstand, aber die er wenigstens von den anderen Menschen kannte, beruhigte die junge Frau ihn.
Wir tauschten wieder die Pferde und mein Hengst rollte zwar nervös mit den Augen, ließ sich aber willig von mir führen. Ich verzichtete auf jedes Wort, denn ich wusste, das war das größte Problem. Solange er mich nicht reden hörte, konnte er sich vorstellen, dass ich ein normaler Mensch war. Denn er wollte nicht so sein, das wusste ich. In seinen Augen glänzte der Wunsch nach jemanden, dem er vertrauen konnte. Er wollte nicht so sein, wie er war. Aber er konnte es nicht ändern. Die Mauer des Traumas war dicht um seinen Geist gewebt.
Wir waren erst wenige Schritte vom Hof, als Jovito schon an der Vielzahl der Autos erschrak, die ganz in der Nähe über die Autobahn zum Europapark donnerten. Mit Mühe schaffte ich es, ihn zu halten, während Thorgal meinen Part übernahm und beruhigend auf ihn einredete. Der blonde Hengst war zwar auch manchmal schreckhaft, aber die Autos kannte er. Nach der halben Strecke war ich klatschnass vor Anstrengung, denn Jovito war so aufgeregt, dass ich alle Hände voll zu tun hatte, ihn zu halten. Marion seufzte.
Hinter ihr lief ein ruhiger Thorgal, der geduldig wartete, wenn sich Jovito wieder aufregte. „Lass uns für den Rest des Weges tauschen, Hanna. So machst du dir doch eh keinen Gefallen.", schlug sie vor. Doch ich schüttelte den Kopf. „Nein danke, Marion. Ich muss das allein durchziehen." Jovito erschrak wieder vor meiner Stimme und ich beruhigte ihn mit einem leisen Pfeifen. „Wenn du meinst.", gab meine Freundin nur trocken von sich und ließ Thorgal noch ein bisschen von dem Gras naschen, das am Wegesrand wuchs.
Als wir wieder an der Arena waren, war ich vollkommen fertig und Jovito war es auch. Ich entließ das völlig verängstigte Pferd in seine Box und holte mir zuerst etwas zu trinken. Traurig setzte ich mich auf meine Lieblingsbank und überlegte, was ich als nächstes tun könnte. Denn jetzt waren alle wieder da und es gab nichts für mich zu tun. Vielleicht hätten manche Menschen, die gerade ein Pferd bekommen hatten, sich den ganzen Tag mit ihm beschäftigt, aber bei mir war es anders.
Denn Jovito hatte eindeutig Angst vor mir und ich wusste nicht, was ich dagegen tun konnte. Eine Weile saß ich so da und dachte an früher, als ich noch zur Fangemeinde der Arena gehörte. Wie sehr hatte ich mich auf jedes Foto von der Arenacrew gefreut. Vor allem, wenn es vom Backstagebereich kam. Ich wollte wissen, wie es dort aussah. Wie ihr Alltag aussah und wie sie das immer hinbekamen. Manche Tage hatten sie immerhin drei Shows pro Tag und wenig Freizeit, denn am Wochenende waren ja schließlich auch Shows.
Mittlerweile verstand ich die Leute hier, da ich jetzt mitten unter ihnen weilte. Sie hatten nicht allzu viel Zeit. Und auch alle meine Hobbys waren gestorben. Agrento sah ich fast gar nicht mehr, reiten und voltigieren hatte ich aufgehört und auch das Akkordeon spielen, was ich früher so gerne gemacht hatte, ließ ich sausen. Selbst meine Familie meckerte, dass ich so wenig da war. Trotzdem wollte ich meinen Job nicht aufgeben. Es gefiel mir zu gut. Meine Gabe hatte endlich eine Bestimmung gefunden.
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Moondancer - Pferdemädchen
ФанфикDie Rache der Milady, Arenashow 2013. Eine Geschichte über Pferde, Trickreiten, Mario Luraschis Cavalcade und einem Mädchen, das nicht ganz so normal ist. Ein unvergesslicher Sommer steht Hanna, 17, bevor. Ihr größter Traum beginnt wahr zu werden, a...