72. Moondancer

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Am Abend saß ich dann wieder in der Arena und wartete geduldig auf die Verwandlung. Marion lehnte momentan noch an der Wand und blickte mich erwartungsvoll an. "Also, was willst du?", fragte sie, denn ich hatte sie zum Gespräch herbestellt. Entspannt legte ich zuerst mal meine Beine auf den Tisch, der in dieser Umkleide immer stand und lehnte mich im Stuhl zurück.

"Wie sehr magst du Chris?", fragte ich direkt. Marion öffnete zuerst den Mund, um etwas zu sagen, schüttelte aber dann den Kopf und wurde ein wenig rot. "Wie kommst du denn darauf?", fragte sie schließlich neugierig. "Bist du eigentlich blind?", lachte ich nun. Sie zuckte mit den Schultern und sah mich erwartungsvoll an.

"Ganz ehrlich, Marion. Jeder Blinde mit Krückstock sieht, wie sehr Chris dich anschmachtet. Der hat wegen dir mit Heidi Schluss gemacht!"

"Gar nicht!", unterbrach Marion mich, biss sich auf die Lippe und sah beschämt weg. "Willst du mich etwa mit ihm verkuppeln?", fragte sie dann vollkommen ernst. "Nö, nur dir den nötigen Tritt geben.", ich schmunzelte.

Erstaunt hob sie die Augenbrauen. "Und was ist, wenn ich gar nichts von ihm will?". Seufzend vergrub ich mein Gesicht in den Händen. "Lüg mich nicht an. Ich habe es doch gesehen, wie sehr du die Zeit mit ihm genießt!" Meine Freundin gab sich geschlagen. "Na gut, er sieht schon ganz gut aus und ist unheimlich nett. Aber ich weiß nicht so recht...", zweifelte sie. "Geh mal ein bisschen auf seine Flirtversuche ein, er wird dann bestimmt den ersten Schritt machen. Ich werde mich da aber raushalten.", versprach ich. "Das merke ich!", lachte sie und sah mich bedeutungsvoll an. "Einer musste dir sagen, dass er Gefühle für dich hat.", grinste ich nur. "Dass ich das von jemanden höre, der behauptet, nicht lieben zu können...", schmunzelte sie bedeutungsvoll.

"Ja und? Nur weil ich es nicht kann, heißt es doch lange nicht, dass ich das nicht kenne!", grinste ich zufrieden. Marion gab endgültig auf. "Ok, du hast gewonnen. Ich werde mich mal ein bisschen in Richtung Christophe orientieren. Aber du weißt schon, dass du was erleben kannst, wenn das nur ein geplanter Streich von dir und Chris gegen mich ist.", warnte sie mich noch mit erhobenem Finger und ließ mich dann wieder in der Umkleide allein.

Damit ich eine Beschäftigung hatte, ließ ich Vito noch frei durch die Arena rennen und übte anschließend das Steigen mit ihm. Allerdings so, dass er es seitlich neben mir lernte und nicht vor mir. Das sollte er nämlich gleich mitlernen: Man steigt nicht vor Menschen. Erstens war das unartig und zweitens konnte das gefährlich werden. Am Ende unserer Lektion konnte Vito seine Beine vollkommen kontrolliert in den Himmel schwingen. Am Stehenbleiben mussten wir allerdings noch dranbleiben, da er das Gleichgewicht immer noch nicht hatte. Sowieso machte mir sein Gleichgewicht Sorgen. Dies war so wichtig für das Trickreiten und mein Pferd war einfach noch nicht ausbalanciert genug.

Die Zeit verging schnell bis zum Abend und so war auch Mondhoch nicht mehr weit. In einer Decke gehüllt saß ich in der Stallgasse und übte an Marion die Verbindungen der blauen Ströme. Bereitwillig stellte sie sich als Opfer zur Verfügung und ich arbeitete an der Verschließung meines Geistes und daran, wie viel ich von ihr unbewusst erfahren wollte. An was ich dann doch nicht vorbeikam, waren die Gefühle von Chris, die ihre Ströme sogar leicht rosarot färbten. Aha, das war also die "rosarote Brille" des Verliebt-seins. Bevor ich noch mehr ungewollt rausfand, zog ich mich rasch aus ihrem Geist zurück. Etwas zu schnell, denn Marion zuckte erschrocken zusammen, denn sanft war ich nicht gewesen und sie spürte meinen Geist schon deutlich genug, um wissen, dass sie nicht mehr allein in ihrem Körper war. "Was hast du herausgefunden?", fragte sie misstrauisch, denn ich hatte ihr vorher von den Gefahren erzählt. Dennoch hatte sie zugestimmt, als Opfer hinzuhalten.

Unschuldig zuckte ich mit den Schultern. "Eigentlich nichts Besonderes, aber bei deinen Gefühlen für Chris wollte ich nicht in die Einzelheiten gehen. Deine Ströme sind sogar leicht rötlich deswegen!", lachte ich. Beschämt wandte Marion den Kopf ab. "Warte nur ab, bis es dich irgendwann erwischt.", sagte sie beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust. "A pro pos. Wie sieht es eigentlich mit dir und Marco aus?", lenkte sie das Thema bewusst auf mich. Sie wusste genau, dass in meinen Augen da nichts lief, doch sie liebte es, da etwas hineinzuinterpretieren.

"Gar nichts. Seit dem Tag hier habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er hat sogar meine Freundschaftsanfrage auf Facebook bisher ignoriert!", jammerte ich. "So schlimm?", fragte Marion gespielt übertrieben und strich mir mitfühlend über die Schulter. "Jaaaa! Das habe ich nicht verdient.", gab ich betont schmollend zurück. "Ohhhh, armes Hanna!", sie betonte extra noch grinsend die Es-Form. Vor kurzem hatte ich mich gefragt, was ich denn eigentlich war. Denn es hieß ja: Das Pferd. Seitdem zog mich Marion immer mit dieser Form auf.

Ich war froh, dass sie schon einigermaßen über den Verlust von Thorgal hinweg war. Chris und Vito hatten sie erfolgreich abgelenkt. Jetzt konnten wir über unsere kleinen Scherze schon wieder unbeschwert lachen und meinen eigenen Schmerz, wegen der Verwandlung, verdrängte ich. Darin war ich gut geworden. Oder der Schmerz wurde wirklich weniger. So ganz genau war ich mir nicht sicher.

Jedenfalls stieg der Mond immer höher und erreichte schließlich seinen Höchststand. Dadurch, dass es langsam Herbst wurde, ging es immer schneller und ich blieb auch länger ein Pferd. Solange, bis die Sonne wieder aufging. Im Winter würde das anstrengend werden, wenn die Sonne erst gegen acht oder neun Uhr aufging.

Kurze Zeit später stand ich dann als weiße Stute in der Stallgasse und streckte mich zuerst einmal ordentlich. Vier Beine waren definitiv angenehmer als zwei.

"Komm, Marion. Wir gehen unsere Lichtung suchen!", rief ich vergnügt und ohne zu zögern schwang sich meine Freundin auf meinen Rücken und ich trabte vom Hof. Vito, der schon länger rausgefunden hatte, wie man eine Boxentür öffnete, folgte uns. Auffordernd sah er mich an. "Ich wette, ich bin schneller als du." "Natürlich! Mit Marion auf dem Rücken bist DU schneller!", sagte ich nur. Marion überlegte nicht lange. Sie rutschte von meinem Rücken, sobald wir an der Galoppstrecke ankamen und hob die Hand. Dafür liebte ich sie. Dafür, dass sie auch ohne meine Gedanken lesen zu können, wusste, was ich wollte und was uns glücklich machte. Und im Moment war das eben dieses kleine Wetrennen zwischen mir und meinem goldenen Schützling.

"Bereit?", fragte sie uns grinsend. "Ja!", sagte ich ernst und begutachtete die Strecke, die vor mir lag. Allerdings mehr aus Gewohnheit als mit Sinn dahinter. Mittlerweile kannte ich unsere Galoppstrecke in- und auswendig. "Auf die Plätze... Fertig... Los!", rief sie und mein Pferd und ich schossen los.

So schnell ich konnte, galoppierte ich nun über den Weg und ich fühlte mich mal wieder richtig frei. Rennen war so schön... Vor allem, wenn einem die Kraft nicht ausging. Und ich wurde als Pferd ja stetig damit versorgt. Mit jedem Mal, in dem meine Hufe den Boden berührten, floss die Energie, die durch die Muskelanstrengung verbraucht hatte, wieder in mich hinein. Dagegen hatte meine Falbe keine Chance, der zwar schneller gewesen war, aber gegen Ende sichtlich erschöpfter wurde. Lachend überholte ich ihn kurz vor dem Ziel, dem Waldrand, und stoppte. "Wie machst du das nur?", fragte Vito keuchend. "Ich bin kein normales Pferd!", meinte ich nur vergnügt und trabte eilig zu Marion zurück, die uns hinterhergelaufen war. Sie war noch ein ganzes Stück hintendran und so trug ich sie im Galopp zu Vito zurück. Der Vollmond spendete ein angenehmes Licht, sodass es nicht ganz stockfinster war im Wald.

Im Schritt machten wir uns dann wieder auf die Suche. Mithilfe der Energieströme schickte ich Gedankengänge in die Welt hinaus. Es war nur das Bild, das ich von der Lichtung im Kopf hatte. Und plötzlich tauchte ganz in der Nähe wieder das Reh auf. Als hätte es auf meine Rufe reagiert. Liebevoll blickte ich es an und folgte ihm in das Unterholz. Vito lief mir mit etwas Abstand hinterher.

Kurz darauf kamen wir vor der Trauerweide an, die den Eingang zu der Lichtung bildete. Davor stand, wie immer, der mächtige Hirsch mit dem leuchtenden Geweih. Respektvoll neigte ich den Kopf vor ihm und er ging ein Stück zur Seite. Daraufhin schob ich mit der Nase die tief hängenden Äste zur Seite und betrat meinen Lieblingsplatz. Heute war nicht so viel los auf dieser magischen Lichtung. Nur ein paar Hasen spielten am anderen Ende, sonst wirkte dieser Platz wie ausgestorben. Einzig die Glühwürmchen spendeten wieder das Licht, welche übrigens wieder in großer Zahl vertreten waren.

Marion rutschte von meinem Rücken, lehnte sich an einen Baum am Rand und schloss die Augen. Sie genoss die Atmosphäre hier genauso wie ich. Vito hatte sich inzwischen den Hasen angeschlossen und belustigt sah ich zu, wie die Kleinen den Großen ärgerten, indem sie ihm vor der Nase umher sprangen. Mit einem wohligen Seufzen ließ ich mich dann auf den Boden fallen und sah ihnen weiter zu. Hier fühlte ich mich wohl. Hier war ich Zuhause.

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Anbei ein Bild von dem Hirsch :)

Moondancer - PferdemädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt