76. Hör mir zu, Ludo!

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Vitos Sichtweise

Ich sah zu, wie Hanna vor mir das Bewusstsein verlor. Das durfte nicht sein!

Allein konnte ich ihr nicht helfen, das war mir aber klar. "Bleibe ja bei mir!", rief ich noch, bevor ich mich umdrehte und davongaloppierte. Es erforderte meine gesamte Konzentration, den Weg durch den Regen zu finden und nicht wegzurutschen.

Doch ich musste mich beeilen, sonst gäbe es sie vielleicht nicht mehr. Ein Leben ohne Hanna, das konnte ich mir nicht vorstellen. Sie war so viel mehr als nur mein Mensch. Ohne sie konnte ich nicht leben, das wusste ich. Also galoppierte ich mit meiner gesamten Geschwindigkeit nun über die Galoppstrecke. Zwar ging mir die Kraft aus, doch es war mir egal! Mehrmals rutschte ich jedoch weg und einmal fiel ich sogar hin, doch ich merkte es gar nicht. Nur der brennende Schmerz an meinem Vorderbein bewies, dass ich mich wohl aufgeschürft hatte. Es interessierte mich nicht.

Der Schlamm flog nur so auf mein Fell und ich wusste, ich sah garantiert mehr braun als blond aus. Doch es interessierte mich nicht.

Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich mein Zuhause. Laut machte ich mich bemerkbar, indem ich einmal laut wieherte. Sofort drehten sich sämtliche Pferdeköpfe zu mir. "Wo ist Hanna?" "Was ist passiert?", riefen sie alle durcheinander. Doch mich interessierte nur Ludo, der Arena-Boss, wie mir Hanna erklärt hatte. Er lehnte an der Stallwand und redete mit irgendwem, den ich nicht kannte. Ich galoppierte auf ihn zu und stieß ihn so heftig an, das er taumelte und beinahe umfiel. Jetzt hatte ich wenigstens seine Aufmerksamkeit. Verwundert drehte er sich um und sagte irgendetwas, was ich nicht verstehen konnte. Die Sprache der Menschen konnte ich nicht verstehen, es waren nur undeutliche Laute. Doch er klang fragend. Also deutete ich nur auf meinen Rücken und rief Aguilito zu, auf dem Marion saß, er solle mitkommen. Auf dem Fensterbrett, zwei Schritt weiter, lag so ein komisches Ding, das Hanna Handy nannte. Man brauchte es, um andere Leute anzurufen und sie benutzte es auch, um zum Beispiel den Arzt zu rufen. Also musste das auch mit. Ich trabte zu dem Fenster, nahm sanft das Metallteil zwischen die Lippen und brachte es Ludo, der es verwirrt einsteckte. Als er immer noch nicht verstand, legte ich mich vor ihm nieder und deutete immer wieder auf meinen Rücken.

Warum beeilte er sich nicht? Es ging um Hanna! Doch dann rief Marion etwas und er sah sie kurz verwirrt an, doch dann rutschte er auf meinen Rücken. Endlich!

Bevor er irgendetwas sagen konnte, preschte ich schon davon und Aguilito folgte mir. Unsere überraschten Reiter versuchten uns zu bremsen, doch ich ließ es nicht zu. Ludo war zwar schwerer als Hanna, doch die Tatsache, dass es um Leben oder Tod ging, ließ mich immer neue Kraft ausfindig machen. Noch immer prasselte der Regen auf uns hinunter, durchnässte unsere Reiter innerhalb weniger Sekunden. Mein Fell triefte vor Feuchtigkeit und meine lange Mähne klebte an meinem kalten Fell.

Doch ich rannte, wie ich noch nie gerannt war. Mein ganzer Körper schmerzte von der Anstrengung, doch ich wollte nicht aufgeben. Für Hanna konnte ich nicht aufgeben. Marion stand mittlerweile im leichten Sitz im Sattel und ließ ihrem Fuchs die Zügel lang. Ludo hatte auch aufgegeben, mich bremsen zu wollen und saß nun, leicht nach vorne gebeugt, auf meinem Rücken. Der Regen wurde zwar weniger, aber er war noch da. Das Gewitter schien weitergezogen zu sein. Zum Glück.

Im Wald musste ich ungewollt wieder abbremsen, um nicht auszurutschen. Dennoch kamen wir schnell an dem Baum an, unter dem Hanna lag. Als Marion das sah, schrie sie erschrocken auf und auch Ludo schnappte betroffen nach Luft. Noch während ich durchparierte, hatte er schon sein Handy gezogen und redete in das Ding hinein.

Marion war von Aguilitos Rücken gerutscht und kniete nun neben Hanna am Boden. Diese lag immer noch regungslos dort, doch als ich näher kam, konnte ich ihr Herz schlagen hören. Zwar nicht mehr so kräftig wie normalerweise, aber es schlug noch. Traurig senkte ich den Kopf und pustete ihr den Schlamm aus dem Gesicht. "Du bleibst für mich am Leben, ja?", befahl ich ihr leise, obwohl ich wusste, dass sie es nicht hören konnte.

Ludo war inzwischen um den Baum herumgegangen und rief dann etwas Marion zu. Sie nahm ihren Fuchs am Zügel und bedeutete mir, ihr zu folgen. Verwirrt tat ich es. Auch wenn ich lieber bei Hanna geblieben wäre. Ludo nahm die Baumkrone am oberen Ende und bedeute Marion, ebenfalls zu schieben. Doch zusammen waren die Beiden zu schwach. Wie sollten es zwei Menschen auch schaffen, wenn ich es nicht allein schaffte? "Komm, Augilito. Wir müssen ihnen helfen.", sagte ich eilig und drückte mit meiner Brust gegen das Ende des Baumes. Auch Aguiltio half mit und wirklich: Der Baum bewegte sich einige Zentimeter. Doch weit kamen wir nicht, denn plötzlich ertönte eine laute Sirene und vor Schreck galoppierte ich einige Meter zur Seite, denn ein riesiges, rotes Auto mit einem blauen Licht bretterte gerade den Waldweg entlang. Ludo gab ein heftiges Handzeichen und das Auto fuhr langsamer.

Marion nahm Augilito und mich zur Seite und redete beruhigend auf uns ein. Auch meinem Freund war das Monstrum nicht geheuer, doch wohin sollten wir fliehen? Zitternd blieben wir bei Marion und sahen zu, wie einige Männer aus dem Monstrum ausstiegen und kurz mit Ludo redeten. Sie sollten nicht reden, sondern Hanna endlich befreien! Unruhig tänzelte ich auf der Stelle und beobachtete sie. Am liebsten wäre ich zu ihnen gerannt, um ihnen einen gewaltigen Tritt in den Hintern zu verpassen. Ich beherrschte mich jedoch.

Dann verschwanden die Menschen in dem Auto und kurz darauf kamen sie mit stinkenden, scharf aussehenden Geräten zurück, die ich nicht kannte. Sie setzten diese bei Hanna an den Baum und plötzlich ertönte ein lautes, dröhnendes Geräusch, dass mir in den Ohren wehtat. Was machten diese Spinner? Wollten sie Hanna umbringen?! Ohne auf Marion zu hören, trabte ich zu ihnen und blickte ängstlich zu den gefährlichen Dingern. Ludo drückte mich jedoch sanft weg und murmelte etwas Beruhigendes.

Diese Dinger trennten den Baum in mehrere Einzelteile. Unruhig sah ich dabei zu und nur wenige Minuten später hatten die Männer ein großes Stück aus dem Baum herausgetrennt, dass sie zur Seite rollen konnte. Jetzt war wenigstens Hanna frei. Als ich ein Blick auf ihr Bein werfen konnte, verschlug es mir die Sprache. Es war unnatürlich verdreht, schlammig und ich konnte Blut erkennen. Viel Blut.

Angwidert sah ich weg. Das wollte ich nun wirklich nicht sehen, auch wenn mir mein Mensch so sehr am Herzen lag. Einige andere Menschen, die bisher an der Seite gestanden waren und mir noch gar nicht aufgefallen waren, rannten nun zu meinem Mädchen hin und legten sie auf eine Trage. Dann verfrachteten sie Hanna in ein weißes Auto. Marion drückte Ludo Aguilitos Zügel in die Hand und folgte den Menschen in das Auto. Dann fuhren sie eilig davon. Wo brachten sie Hanna hin? Sie konnte sie mir doch nicht so einfach wegnehmen! Ärgerlich wollte ich ihnen folgen, doch etwas an meinem Hals hinderte mich daran.

Ludo hatte einen Strick um meinen Hals gelegt und hielt mich nun fest. Das hasste ich. Wenn man mich um meine Freiheit nahm und nicht das tun ließ, was ich unbedingt wollte. Und da fuhr einfach mein Mädchen davon und ich durfte nicht hinterher. Ärgerlich folgte ich Ludo, als er sich auf den Fuchs schwang und wieder zurück in Richtung Arena ritt. Er ließ mir ja keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Natürlich war ich stärker als er, das wusste ich, doch Hanna hatte mir oft genug gesagt, dass ich gefälligst Respekt zu haben hatte vor dem Boss. Mit hängendem Kopf folgte ich Ludo also schließlich zurück nach Hause.

Dort wurde ich zuerst einem Vollbad mit warmem Wasser unterzogen. Mein ganzes Fell war voller Schlamm und erst nach der Aufregung wurde mir bewusst, wie kühl es war. So stand ich dann zitternd in der Box, bis mich Audrey, glaubte ich zu erkennen, holte und mich mit warmen Wasser und Seife wieder sauber machte. Anschließend trocknete sie mich ab, was ich sogar ganz genoss. Dadurch vergaß ich für kurze Zeit meine Sorgen um Hanna und ließ es mir einfach gut gehen. Auch auf meine Wunde wurde irgendetwas gesprüht, was zwar im ersten Moment brannte, dafür aber später ganz wohltuend wirkte.

So stand ich wieder in meiner Box, hatte den Kopf aus dem Fenster gestreckt und wartete auf Hannas Rückkehr.

Moondancer - PferdemädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt